Der Schatten von Thot
Sarah Kincaid vernahm, als sie den Ausgang des Bahnhofsgebäudes passierte – und eine andere Welt betrat.
Gluthitze schlug ihr entgegen, die erfüllt war von Staub und hektischem Lärm. Männer in hellen Kaftanen und dunklen Burnussen eilten geschäftig umher – die einen boten sich als Führer oder hammal { * } an, andere betätigten sich als Verkäufer von Wasser oder Süßholzlimonade oder versuchten, Teppiche und andere Waren loszuschlagen, die sie auf ihren Schultern trugen; wieder andere bemühten sich, die soeben in Kairo Angekommenen gestenreich zu den Kutschen zu locken, die vor dem Bahnhofsgebäude bereitstanden – alte, heruntergekommene Gefährte zumeist, die keinen vertrauenerweckenden Eindruck machten.
Gesäumt wurde die Straße von niederen, nur zweistöckigen Gebäuden, die aus Lehmziegeln gebaut waren und deren helle Farbe das Licht der Sonne gleißend reflektierte. Gestreifte Vordächer aus Stoff spendeten den Passanten Schatten, die entlang der staubigen Straßen verkehrten. Schuhputzer, Barbiere und Messerschleifer kauerten an den Ecken und boten ihre Dienste feil. Die Läden hatten allesamt geöffnet – Tischler, Töpfer und Korbflechter priesen ihre Waren an, auch ein katib { ** } hatte seine Stube geöffnet und war jenen zu Diensten, die Wort und Schrift der arabischen Sprache nicht beherrschten. Schwer bepackte Fuhrwerke und Kamele zwängten sich durch die Straßen, begleitet vom lauten Geschrei ihrer Kutscher und Treiber. Die heiße Luft war getränkt vom beißenden Gestank des Kamelkots, aber auch von den würzigen Düften, die aus den Kahowas { * } und Ful { ** } -Küchen drangen.
»Gütiger Himmel«, war alles, was Milton Fox dazu einfiel. »Wo, in aller Welt, sind wir hier gelandet?«
»Willkommen in Kairo, Inspector«, erwiderte Sarah säuerlich, die ihr samtenes Kleid noch im Zugabteil gegen ein schlichtes Modell aus heller Baumwolle eingetauscht hatte. Der breitrandige Hut, den sie dazu trug, sowie der kleine Schirm spendeten ihr Schatten. »Gefällt es Ihnen hier etwa nicht?«
»Ob es mir gefällt?« Fox schnitt eine Grimasse. »Es ist heiß wie in der Hölle, und es stinkt wie auf einer Latrine!«
»Eh bien, Sie haben Recht«, räumte du Gard naserümpfend ein. »Aber wenn es Ihnen nicht gefällt, brauchen Sie nicht zu bleiben, monsieur l’inspecteur. Der nächste Zug zurück nach Alexandrien geht noch heute Nacht, und ich bin sicher, dass sich auch ein Schiff finden würde, das Sie zurück nach…«
»Vergessen Sie’s«, schnarrte der Mann von Scotland Yard. »Denken Sie, ich hätte kein Pflichtgefühl? Man hat mir einen Befehl erteilt, und natürlich werde ich bleiben und ihn ausführen – auch wenn ich persönlich diese ganze Expedition für reine Zeitverschwendung halte.«
»Oui«, bestätigte du Gard säuerlich. »Das sagten Sie bereits.«
»Der Bote, den wir vorausgeschickt haben, müsste dafür gesorgt haben, dass unsere Zimmer im Hotel Shepheard’s bereits zu unserer Verfügung stehen«, sagte Captain Hayden. »Ich denke, es wird das Beste sein, Gentlemen, wenn wir uns zunächst dorthin bringen lassen. Auf diese Weise geben wir Lady Kincaid Gelegenheit, sich von den Strapazen der langen Reise zu erholen und sich ein wenig frisch zu machen.«
Sarah wollte widersprechen, dass sie weder erholungsbedürftig sei noch sich frisch machen müsse, aber sie kam nicht dazu.
» Très bien, eine wunderbare Idee«, willigte du Gard sofort ein, und auch Fox schien zur Ausnahme einmal derselben Meinung zu sein. »Ein kühler Schluck und ein wenig Ruhe werden uns wohl guttun nach all der…«
»Lady Kincaid! Vorsicht!«
Es war Hayden, der mit lauter Stimme gerufen hatte. Gewarnt fuhr Sarah herum – und erblickte einen Mann mittleren Alters, der einen schmutzigen Kaftan trug und geradewegs auf sie zukam. Sein Teint war dunkel, sein schwarzes Haar reichte ihm bis zu den Schultern; sein Kinnbart war wild und ungepflegt, und im Blick seiner schwarzen Augen lag etwas, das Sarah erschreckte. Zielstrebig kam der Fremde auf sie zu – als Hayden wie ein Blitz dazwischenfuhr.
Der grellrote Uniformrock des Offiziers wischte an Sarah vorbei, und noch ehe sie recht begriff, was geschah, lag der Fremde auf dem Boden und hatte die Spitze von Haydens Säbel an der Kehle.
»Keine Bewegung, du Hund«, fuhr der Offizier ihn an, »oder dein Blut soll sich mit Kameldung und Pferdeäpfeln mischen.«
»B-bitte, Herr«, stieß der Mann hervor, in dessen leicht verwahrlosten Zügen Sarah
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