Der Schatten von Thot
auszuheben wie ein Krokodilsnest. Für das Auffinden ihres Verstecks sind Sie zuständig, Lady Kincaid – den Rest übernehmen wir.«
»Ganz einfach, nicht wahr?«, fragte Sarah.
»Allerdings.«
»Sagen Sie, Captain, sind Sie wirklich so naiv? Glauben Sie denn im Ernst, wir könnten die Sektierer überraschen? Die wissen doch längst, dass wir kommen, mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten sie uns bereits. Noch vor vierundzwanzig Stunden hätten wir das Heft des Handelns in die Hand nehmen können, aber jetzt nicht mehr. Wer immer unsere Gegner sind, sie bestimmen die Regeln in diesem Spiel, und wir können inzwischen nichts weiter tun, als darauf zu reagieren.«
Damit wandte sich Sarah ab und ließ die beiden Männer kurzerhand stehen, wollte den Salon auf dem selben Weg verlassen, auf dem sie ihn betreten hatte.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Sir Jeffrey verblüfft.
»Wohin wohl?«, erwiderte Sarah über die Schulter. »Ich habe zu packen. Wenn die Gentlemen mich daher entschuldigen wollen…«
»Das kommt nicht in Frage«, wehrte Hayden entschieden ab. »Wenn Sie Recht haben und Ihr Onkel tatsächlich von diesen Sektierern entführt wurde, so ist nicht auszuschließen, dass auch Sie gefährdet sind, Lady Kincaid.«
»Keine Sorge«, entgegnete Sarah leichthin, »ich bin durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen.«
»Sie sind eine Lady und brauchen Schutz«, beharrte der Offizier und warf sich in die Brust, die Hand am Griff seines Säbels.
»Ach du meine Güte!« Sarah blieb auf der Schwelle stehen. »Also bitte, Captain – ich will Sie nicht davon abhalten, Ihren Pflichten als Ehrenmann nachzukommen. Wenn es Ihnen Freude bereitet, so begleiten Sie mich nach Mayfair – obwohl ich sicher bin, dass mir am helllichten Tag dort keine Gefahr droht.«
»Wie auch immer«, entgegnete Hayden pikiert und folgte ihr nach draußen. »Befehl ist Befehl.«
Die Eingangshalle des Clubs wurde von steinernen Standbildern gesäumt – keine Originale, wie Sarah schon beim ersten Betreten festgestellt hatte, sondern Nachahmungen, die die ägyptischen Gottheiten Horus, Anubis, Chepre, Hathor und noch einige mehr darstellten. Dazwischen führten Türen aus dunklem Eichenholz in die Räumlichkeiten des Clubs. Anders als bei Sarahs Ankunft stand eine der Türen halb offen, sodass Sarah einen Blick in den angrenzenden Raum werfen konnte, der von bedeutender Größe zu sein schien…
Einem plötzlichen Impuls folgend trat Sarah auf die Tür zu und öffnete sie vollständig. Zu ihrer Überraschung breitete sich vor ihr ein weites, von Sitzrängen umlagertes Rund aus, einem antiken Amphitheater nicht unähnlich. In der Mitte erhob sich ein steinerner Obelisk, der, wie Sarah sofort auffiel, der Nadel der Kleopatra nachempfunden war. Davor stand ein Rednerpult, das mit goldenen Flügeln verziert war. Hoch über dem Obelisken und den Sitzrängen wölbte sich eine gläserne Kuppel, durch die fahles Tageslicht fiel. Londons grauer, wolkendurchzogener Himmel war dahinter zu sehen.
»Das große Auditorium«, erläuterte Sir Jeffrey, der zusammen mit Hayden zu Sarah aufgeschlossen hatte. »Die Ägyptische Liga ist stolz auf die Verbindungen, die sie zu Wissenschaftlern und Künstlern in aller Welt unterhält. Charles Robertson hat hier gelesen, ebenso wie der Deutsche Lepsius und einige Schüler des Franzosen Champollion…«
»Unglaublich«, kommentierte Sarah – und damit meinte sie nicht die Tatsache, dass Schüler des Begründers der Ägyptologie hier gewirkt hatten, sondern die Tatsache, dass sie diesen Ort kannte.
Sie kannte ihn, obwohl sie noch nie zuvor in ihrem Leben hier gewesen war – aus der Beschreibung, die der Duke of Clarence unter dem Einfluss der Hypnose gegeben hatte. Der Obelisk, ein weites Rund, darüber der freie Himmel, wenn auch hinter Glas…
Die Erkenntnis traf Sarah Kincaid wie ein Hammerschlag: Der königliche Erbe hatte weder gelogen noch hatte seine Phantasie ihm einen Streich gespielt. Es war hier gewesen, wo er die ägyptischen Gottheiten getroffen hatte! Genau hier, im großen Hörsaal der Ägyptischen Liga…
Sarah schauderte bei dem Gedanken und musste sich anstrengen, sich ihre Bestürzung nicht zu sehr anmerken zu lassen. Ganz plötzlich fügten sich einige Teile des Mosaiks zusammen und ließen die Liga in gänzlich anderem Licht erscheinen.
Was, wenn die Verschwörer, die hinter den Morden von Whitechapel steckten und es auf das Buch von Thot abgesehen hatten, in Wahrheit Mitglieder
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