Der Schatten von Thot
über ein Bauwerk gebreitet, wirkt er konservierend, mitunter über Tausende von Jahren hinweg.«
»Unvorstellbar«, kommentierte Sir Jeffrey fasziniert. »Also muss es uns lediglich gelingen, einen Weg ins Innere des Tempels zu finden, um das sagenumwobene Buch von Thot zu finden?«
»Es ist ein erster Schritt«, dämpfte Sarah die Hoffnungen des königlichen Beraters. »Das Buch selbst befindet sich längst nicht mehr dort. Was ich stattdessen zu finden hoffe, ist ein Hinweis, wohin das Buch gebracht wurde, als die Priesterschaft vor den Schergen Scheschonks floh.«
»Wir suchen also nichts als einen Hinweis?«, ächzte Fox.
»So ist es.«
»Kaum zu fassen«, stöhnte der Inspector. »Wir befinden uns auf einer verdammten Schnitzeljagd quer durch die Libysche Wüste…«
»Wenn Sie es so nennen wollen.« Sarah nickte. »Die Archäologie befasst sich mit der Suche nach Spuren und Hinweisen, Inspector, ähnlich wie die Kriminalistik. Was uns unterwegs erwartet, wissen wir nicht. Alles, was wir tun können, ist, unseren Quellen zu vertrauen.«
»Ihr Vertrauen in allen Ehren, Lady Kincaid«, wandte Hayden säuerlich ein, »aber gestatten Sie mir eine Frage.«
»Da Sie ohnehin fragen werden, unabhängig davon, ob ich es Ihnen gestatte – nur zu.«
»Wenn angeblich schon so viele vor uns nach dem Buch des Thot gesucht haben und es um jeden Preis finden wollten – wie erklären Sie sich dann, dass es bislang keinem von ihnen gelungen ist? Glauben Sie, dass all diese Leute, die bei der Suche gescheitert sind, so viel dümmer waren als Sie?«
»Im Gegenteil, Captain«, erwiderte Sarah kühl. »Einige der brillantesten Denker der Alten Welt haben sich auf die Suche nach dem Buch gemacht. Von Alexander beispielsweise wird behauptet, dass auch sein Lehrer Aristoteles an der Suche beteiligt gewesen sein soll. Aber Sie vergessen dabei zwei wesentliche Dinge.«
»Nämlich?«
»Erstens zeigt die Erfahrung, dass die Geschichte ihre Geheimnisse stets erst dann preiszugeben pflegt, wenn die Zeit reif dafür ist – und man kann nie wissen, wann es so weit sein wird. Zweitens bedeutet die Tatsache, dass das Buch seit dreitausend Jahren verschollen ist, keineswegs, dass es bislang niemand gefunden hat.«
»Was wollen Sie damit sagen? Wenn es gefunden worden wäre, hätte man doch davon erfahren…«
»Nicht zwangsläufig, Captain«, wandte Kamal ein, der sich bislang pflichtschuldig im Hintergrund gehalten hatte.
»Was geht dich das an, Boy?«, bellte Hayden. »Weder habe ich dich um deine Meinung gefragt, noch lege ich Wert darauf.«
»Kamal ist ein reguläres Mitglied dieser Expedition«, stellte Sarah klar, »und natürlich steht es ihm frei, seine Meinung zu äußern. Also, Kamal – was wolltest du sagen?«
»Ich denke, dass Captain Hayden sich irrt, wenn er glaubt, dass das Buch des Thot in den letzten dreitausend Jahren von niemandem gefunden wurde. Alles, was wir wissen, ist, dass keiner, der es gesucht hat, jemals zurückgekehrt ist.«
»Genauso ist es, Kamal«, pflichtete Sarah bei. »Und ich hoffe, Captain Hayden, dass uns allen ein ähnliches Schicksal erspart bleiben wird.«
4
E XPEDITIONSBERICHT
24. D EZEMBER 1883
Der fünfte Tag auf dem Schiff…
Je weiter es nach Süden geht und je karger das Land wird, das sich zu beiden Seiten des Nils erstreckt; je mehr die Wüste ihre unnahbare, zerstörerische Natur offenbart, desto mehr wird meinen Begleitern klar, worauf sie sich eingelassen haben.
Während Sir Jeffrey sich noch immer in freudiger Erwartung übt und jeden neuen Eindruck dankbar in sich aufnimmt, ist bei Hayden und Fox in zunehmendem Maße Anspannung zu spüren, die sich seit den Geschehnissen von Kairo noch gesteigert hat. Du Gard indes hat sich weiter zurückgezogen, nicht einmal ich komme mehr an ihn heran – so, als würde er etwas ahnen und ein düsteres Geheimnis hüten, das er niemandem anvertrauen will.
Kamal hingegen, den ich zunächst verdächtigt habe, für die Gegenseite zu arbeiten, entpuppt sich mehr und mehr als ein geselliger und überaus gesprächiger Begleiter, hinter dessen einfacher Fassade ein nobler Charakter und ein gebildeter Geist stecken. Wie ich erfahren habe, hat er eine englische Schule besucht und dort unsere Sprache und Umgangsformen erlernt, sodass ich mich mit ihm über viele Themen unterhalten kann, was ich – sehr zum Verdruss von Captain Hayden, der Kamal noch immer nicht traut – auch häufig tue.
Am späten Nachmittag haben
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