Der Schatten von Thot
brauche. Mit Ihrer Erlaubnis, Lady Kincaid…?«
»Natürlich, gehen Sie nur.« Sarah lächelte nachsichtig.
»Gute Nacht, Lady Kincaid.«
»Gute Nacht, Inspector. Schlafen Sie gut.«
»Keine Sorge«, versicherte der Inspector von Scotland Yard mit lallender Zunge. »Das werde ich ganz gewiss…«
Auch Sir Jeffrey verabschiedete sich und zog sich zurück, ebenso Kamal, der sein Mahl aus Gebäck und frischen Datteln beendet hatte und sich auf dem Sonnendeck sichtlich unbehaglich fühlte. Zurück blieben nur Sarah, Maurice du Gard und Stuart Hayden, der an die Reling trat und auf das breite Band des Nils blickte, das im Mondlicht glitzerte.
»Was für eine wunderbare Nacht«, stellte er fest.
Sarah hob die Brauen. »Seit wann haben Soldaten Augen für die Schönheit der Natur?«
»Sie kennen mich nicht, Lady Kincaid. Und solange Sie mich nicht kennen, sollten Sie sich kein Urteil über mich erlauben.«
»Zugegeben«, räumte Sarah ein. »Ich kenne Sie nicht, Captain – aber ich weiß, wofür Sie stehen. Und das genügt mir.«
»Tatsächlich? Und wofür stehe ich?«
»Für die Arroganz der Mächtigen«, gab Sarah bereitwillig Auskunft, »für das rücksichtslose Recht des Stärkeren und für eine Gesellschaft, die sich selbst als Maß aller Dinge betrachtet, ungeachtet der Tatsache, dass alles Menschliche vergänglich ist.«
Hayden antwortete nicht sofort. Sarahs Worte schienen ihn zu treffen, denn sein Blick wurde starr, und seine Kieferknochen mahlten. »Ich habe die Menschen dieses Landes anders erlebt als Sie, Lady Kincaid«, meinte er schließlich, »nämlich als Gegner im Krieg. Und ich habe zahllose meiner Männer im Wüstensand einen grausamen Tod sterben sehen.«
»Das tut mir leid, Captain«, erwiderte Sarah mit ehrlichem Bedauern. »Aber nicht Ägypten hat Ihre Soldaten getötet, sondern jene, die Sie hierhergeschickt haben, um des bloßen Profites willen.«
»Was soll das heißen? Gehören Sie etwa auch zu denen, die den Nutzen der Kolonien in Zweifel ziehen?«
»Ich sage nur, dass wir uns damit auf einen gefährlichen Pfad begeben haben, dessen Ende wir nicht absehen können«, erwiderte Sarah.
»Ich verstehe.« Hayden nickte, wandte sich ab und blickte wieder hinaus auf den Fluss. Dann leerte er sein Weinglas, stellte es auf ein bereitstehendes Tablett und verbeugte sich steif. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, Lady Kincaid – ich habe eine Wachschicht zu übernehmen.«
»Natürlich«, erwiderte Sarah, und mit geräuschvollen Schritten marschierte der Offizier davon.
»Du solltest das nicht tun, chérie«, tadelte du Gard. Inzwischen hatten auch die übrigen Gäste die Lounge verlassen und sich zur Nachtruhe begeben, sodass sie ganz allein waren.
»Was meinst du?«, fragte Sarah.
»Du solltest dir Hayden nicht zum Feind machen.«
»Und das sagst ausgerechnet du?«
»Er ist ein guter Offizier und kennt seine Pflicht.« Du Gard grinste. »Und überdies hat er eine Schwäche für dich.«
»Hayden? Für mich? Ausgeschlossen.«
»Glaub mir, es ist so.« Du Gard lachte leise. »Auch wenn du seine Gefühle nicht erwiderst, du solltest froh sein, dass du jemanden hast, auf den du dich verlassen kannst. Von allen Leuten, die diese Expedition begleiten, taugt Hayden am allerwenigsten zum Verräter.«
»Bleiben noch Sir Jeffrey und Milton Fox.«
»Fox ist ein Engländer, wie er im Buche steht: arrogant, borniert und auf sich selbst beschränkt. Aber ich glaube nicht, dass er Scotland Yard je verraten würde.«
»Und Sir Jeffrey?«
Du Gard lächelte. »Erwartest du von mir, dass ich einen königlichen Berater anschwärze?«
»Ich erwarte gar nichts, Maurice. Ich will nur wissen, was du denkst.«
»Nun – Jeffrey Hull ist ein Mitglied der Liga, n’ est pas? Und das macht ihn grundsätzlich verdächtig. Allerdings sehe ich in seinem Verhalten keinen Grund zum Argwohn.«
»Dann sind wir ebenso ratlos wie vorher«, folgerte Sarah. »Denn Kamal hat in Kairo eindrucksvoll bewiesen, dass er auf unserer Seite steht.«
»Vergiss meine Wenigkeit nicht«, wandte du Gard ein.
»Unsinn«, wehrte Sarah ab. »Du bist kein Verräter. Hayden und Fox mögen das glauben, aber ich nicht.«
»Willst du ernstlich behaupten, dass dir der Gedanke noch nie gekommen ist, chérie?«
»Der Gedanke ist mir durchaus gekommen«, gab Sarah zu, »aber nur für einen kurzen Augenblick. Außerdem hast du soeben bewiesen, dass du nicht der Verräter sein kannst.«
»Weshalb nicht?«
»Wenn es so
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