Der Schatten von Thot
wäre, würdest du mich bestimmt nicht mit der Nase darauf stoßen, oder?«
Du Gard ließ ein Lachen vernehmen, das zugleich amüsiert und bitter klang. »Du musst dich vorsehen, Sarah. In dem Kampf, der dir bevorsteht, hast du es mit Gegnern zu tun, die ungleich verschlagener sind als du. Wenn du überleben willst, musst du lernen, wie sie zu denken. Dass ich selbst den Gedanken ins Spiel bringe, ich könnte für den Feind spionieren, könnte ebenso gut auch Taktik sein.«
»Inwiefern?«
Du Gard lächelte. »Nenne es das Prinzip der doppelten Täuschung – ich könnte versuchen, mir dein Vertrauen zu erschleichen und mich auf diese Weise weniger verdächtig zu machen.«
»Du brauchst dir mein Vertrauen nicht zu erschleichen, Maurice«, erwiderte Sarah. »Du hast es bereits.«
»Und wenn ich dein Vertrauen nicht verdiene?«
»Was meinst du damit?« Sarah blickte ihn herausfordernd an.
»Hast du dich nie gefragt, weshalb ich an dieser Expedition teilnehme, ma chère?«
»Nun, ich nahm an, dass du die Wahrheit ebenso herausfinden willst wie ich selbst. Außerdem weißt du, dass du etwas gutzumachen hast. Und ein schlechtes Gewissen kann ein starker Antrieb sein.«
»Du sprichst aus eigener Erfahrung, n’ est pas?« Du Gard lächelte. »Ist dir nie der Gedanke kommen, ich könnte eine eigene Agenda verfolgen? Dass ich meine eigenen Gründe haben könnte, das Buch von Thot zu erforschen?«
»Was für Gründe?«, fragte Sarah.
»Sagt dir der Name Éteilla etwas?«
»Nein.«
»Es ist der nom de voyage eines Landsmannes von mir – ein gewisser Jean François Aliette, der vor etwa hundert Jahren lebte. Er war ein Meister des Tarots, der einige Regeln des Kartenlegens veränderte und sogar neue Karten hinzugefügt hat.«
»Kann sein.« Sarah zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Was hat das mit dem Buch des Thot zu tun?«
»Éteilla«, fuhr du Gard fort, »gründete im Jahr 1788 eine geheime Vereinigung, die sich ›Deuter des Buches von Thot‹ nannte und die die Auffassung vertrat, das darin die letzten Geheimnisse des Tarot niedergeschrieben sind. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
»Ich kann es mir denken.«
»Das verschollene Buch birgt geheimes Wissen, Sarah. Seit Hunderten von Jahren suchen Menschen aus den verschiedensten Gründen danach – auch jene, die die Zukunft zu deuten versuchen. Du siehst also, ich hätte gute Gründe, dich zu verraten und das Buch in meinen Besitz zu bringen. Die Sache ist nur – ich werde es nicht tun. Willst du wissen, wieso?«
»Ich weiß es bereits«, versicherte Sarah.
»Tatsächlich?«
»Ich denke schon. Du magst ein Windhund sein und ein Bonvivant, du Gard, und es gab eine Zeit, da habe ich dich verflucht – aber ein Verräter bist du ganz sicher nicht. Denn um Verrat zu üben, darf man keine Achtung vor sich selbst besitzen. Du jedoch bist der selbstverliebteste Mensch, den ich kenne.«
Du Gard lachte erneut, ein wenig befreiter diesmal, obwohl Sarah für einen kurzen Augenblick den Eindruck hatte, dass er etwas anderes hatte sagen wollen. »Und das glaubst du wirklich?«, wollte er wissen.
»Allerdings.«
»Eh bien, dann behalte das gut in Erinnerung, Sarah. Vor allem für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte.«
»Für den Fall, dass dir etwas zustoßen sollte?« Sarah bekam trotz der schwülen Hitze eine Gänsehaut. Die Richtung, in die das Gespräch sich entwickelte, gefiel ihr nicht.
»Erinnerst du dich an jenen Abend in meiner Kammer?«, fragte du Gard. »Als ich den Drachen befragte und die Vision vom vierten Mordopfer hatte?«
»Natürlich.«
»An jenem Abend«, fuhr der Franzose mit leiser, fast flüsternder Stimme fort, »ging meine Vision noch weiter.«
»Ich weiß.« Sarah nickte. »Du hast etwas gesehen, nicht wahr? Aber du wolltest bislang nicht darüber sprechen.«
»Ich hatte meine Gründe, chérie, denn es ist nicht gut, wenn ein Mensch zu viel über die Zukunft weiß. Hätte ich dir gesagt, was ich gesehen habe, so hättest du um jeden Preis versucht, es zu verhindern, und mich an dieser Expedition nicht teilnehmen lassen. Aber es ist wichtig, dass ich hier bin, genau jetzt, in diesem Augenblick. Alles, was geschieht, Sarah, selbst das Gespräch, das wir augenblicklich führen, gehört zum großen Plan.«
»Zum großen Plan?« Sarah hob die Brauen. Schon den ganzen Abend über hatte du Gard sich reichlich seltsam benommen, aber nun… »Was genau hast du gesehen, Maurice?«, wollte sie
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