Der Schatten von Thot
wissen.
»Etwas Schreckliches«, antwortete er ausweichend.
»Was genau war es?«
Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich habe«, sagte er leise, »ich habe mein eigenes Ende gesehen, chérie.«
Sarah war wie vom Donner gerührt. Nach all den Anspielungen, die du Gard hatte fallen lassen, hatte sie geahnt, dass er etwas Derartiges sagen würde. Aber der rationale Teil ihres Bewusstseins wehrte sich mit aller Macht dagegen.
»Humbug«, widersprach sie barsch. »Das bildest du dir nur ein, Maurice. Die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Es liegt in unserer Hand, sie zu beeinflussen und zu verändern.«
»Nicht diesen Teil unserer Zukunft«, erwiderte du Gard mit wehmütigem Lächeln. »Verstehst du nicht, Sarah? Alles hängt zusammen: die Morde in London, unsere Reise hierher, der Tod deines Vaters, der Verräter in unseren Reihen – selbst jener Teil deiner Kindheit, an den du dich nicht zu erinnern vermagst…«
»Die Dunkelzeit?« Sarah horchte auf. »Was hat sie damit zu tun?«
»Du wirst es herausfinden«, meinte du Gard überzeugt. »Nach und nach wird sich dir dein Schicksal offenbaren, Sarah – aber hüte dich vor deinen Feinden.«
»Was soll das heißen?« Sarah spürte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. »Verdammt, du Gard, werde gefälligst deutlicher. Was weißt du über meinen Vater? Und über die Zeit, an die ich mich nicht erinnere?«
»Hab Geduld, Sarah. Die Zeit wird es ans Licht bringen.«
»Aber ich will nicht warten«, protestierte sie. »Sag mir jetzt, was du weißt.«
»Das darf ich nicht. Wahrscheinlich habe ich ohnehin schon zu viel gesagt.«
»Was meinst du damit?«
»Hab keine Angst, Sarah. Vertraue auf das Licht. Es wird dich ans Ziel führen.« Du Gard leerte sein Weinglas in einem Zug und stellte es zurück auf den Tisch.
Für den Franzosen schien damit alles gesagt zu sein – aber nicht für Sarah. Zahllose Fragen drängten sich ihr auf, die alle zugleich über ihre Lippen wollten.
»Aber wer…? Wie…?«, stammelte sie hilflos – als eine schwere Erschütterung das Schiff durchlief. Gleichzeitig erfolgte ein ohrenbetäubender Knall, und über dem Vorderdeck, jenseits des hohen Schlotes der Egypt Star, flammte ein orangeroter Feuerball auf, der lodernd in den dunklen Nachthimmel stieg, um sich schließlich in einer dunklen Rauchwolke zu verlieren.
Alarmiert sprang Sarah auf, anders als du Gard, der gelassen sitzen blieb, als hätte er genau gewusst, was geschehen würde. Während vom Vordeck lautes Geschrei erklang, stürzte Sarah zur Reling und blickte noch vorn zum Bug. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Loderndes Feuer spiegelte sich im Wasser des Nils. Die vorderen Deckaufbauten standen in Flammen, und den gellenden Schreien nach zu urteilen, gab es viele Verwundete…
Das spontane Bedürfnis zu helfen erfüllte Sarah, und sie stürmte die Stufen zum Promenadendeck hinab, wo helle Aufregung herrschte. Passagiere, die sich bereits schlafen gelegt hatten, drängten aufgeregt aus ihren Kabinen, während Stewards und Matrosen in heilloser Panik umherliefen. Chaos war ausgebrochen. Weder gab es koordinierte Rettungsarbeiten, noch versuchte jemand, das Feuer zu löschen.
»Du da!« Sarah griff sich kurzerhand einen jungen Bediensteten, der sich an ihr vorbeidrücken wollte. »Wir brauchen Eimer! Eine Löschkette! Schnell, verstehst du…?«
Der Junge sandte ihr einen gehetzten Blick, nickte und verschwand in der wimmelnden Menge. Gegen den Strom der Passagiere, die panisch nach achtern flüchteten, kämpfte sich Sarah bugwärts. Schon stieg ihr der bittere Qualm in die Nase, schlug ihr sengende Hitze entgegen – als sie plötzlich gegen ein rot uniformiertes Hindernis prallte. Stuart Hayden…
»Wo wollen Sie hin?«, erkundigte sich der Offizier unverhohlen vorwurfsvoll.
»Lassen Sie mich«, protestierte Sarah und versuchte, an ihm vorbeizukommen. »Ich möchte helfen…«
»Da gibt es nichts mehr zu helfen«, konstatierte Hayden. »Für die armen Teufel, die es bei der Explosion erwischt hat, kommt jede Hilfe zu spät.«
»Dann müssen wir versuchen, den Brand zu löschen…«
»Das werden wir«, versicherte der Offizier. »Aber Sie werden sich jetzt in Sicherheit begeben und uns die Arbeit überlassen.«
»Verdammt, Hayden«, platzte es aus Sarah heraus. »Wofür halten Sie sich? Für mein Kindermädchen?«
»Ich bin für Ihre Sicherheit auf dieser Reise verantwortlich, und ich werde nicht zulassen, dass…«
Hayden unterbrach sich
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