Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
wie kalt es heute ist!, dachte sie. Sie ging so schnell, wie der tiefe Schnee es zuließ, und freute sich auf ihr Zuhause. Kaita würde schon mit einem heißen Tee auf sie warten, oder mit warmen Gewürzwein …
Plötzlich traf sie etwas hart zwischen die Schultern, riss sie zu Boden und hielt sie fest. Sie hatte Schnee in Mund und Nase und glaubte, ersticken zu müssen. Hilflos und panisch begann sie um sich zu schlagen. Sie hörte den Stoff reißen, dann wurde ihr der Mantel von den Schultern gezogen. Mit einem harten Griff am Hinterkopf wurde sie tiefer in den Schnee gedrückt, und ihre Schreie erstickten. Dann war es, als schnitten ihr glühende Klingen in den nackten Rücken. Sie wurde beinahe ohnmächtig vor Schmerzen.
Doch dazu kam es nicht, denn sie wurde ergriffen und herumgeworfen. Aus den Augenwinkeln sah sie das viele Blut im Schnee, und in einem Winkel ihres Verstandes sagte sich die Ärztin sachlich und ruhig, dass es wenig Hoffnung gab. Doch im nächsten Moment – beim Anblick ihres Mörders – war auch die letzte Hoffnung zunichte. Ober dem schmalen, fleischlosen Schädel spannte sich leichenblasse Haut, und rot glühende Augen blickten sie wild an. Die schwarzen Lippen hatte es zurückgezogen, den Schnabel weit aufgerissen. Das Ungeheuer entblößte lange, gezackte Fänge und schlug mit den Flügeln. Die großen schwarzen Schwingen breiteten sich über Evelinden wie ein Leichentuch. Großer Myrial – kein menschliches Wesen!, war ihr letzter Gedanke.
Der Schnabel stieß herab, die Fänge bohrten sich in ihren Hals – ein flammender Schmerz, dann vergingen ihr die Sinne.
Sobald Bevron aus dem Zimmer gegangen war, um ihr den versprochenen Grog zu machen, sprang Gilarra vom Stuhl auf und stellte sich wieder ans Fenster, wo sie den wirbelnden Schneeflocken zuschaute. Die steilen Felsen der Schlucht schnitten die bösen Winde ab, von denen sie wusste, dass sie über dem Gipfel tobten. Im Schnee sah der Heilige Bezirk sehr schön aus, und die beschneiten Simse und Reliefs glitzerten im Schein der Lampen.
Wie weich alles aussieht, dachte Gilarra. Wenn man im warmen Zimmer steht, denkt man an dicke weiße Wolle, da draußen hat man natürlich keinen Sinn für solche Überspanntheiten. Was so harmlos aussah, war in Wirklichkeit ein Raubtier, ein heimlicher Mörder in der Nacht. Außerhalb des Bezirks heulte der Sturm wie ein Rudel Wölfe durch die Straßen. Unter den Armen der Stadt würden einige den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Gilarra schauderte. Sie dachte an das Wetter im Gebirge. Wenn Blank und Zavahl keinen Unterstand gefunden hatten, waren sie wahrscheinlich schon tot.
Und was dann? Schon lange hegte sie das Verlangen, Hierarch zu sein. Nun endlich würde sie die Macht erlangen, wenn auch nicht den Titel, und noch viele Jahre behalten – denn selbstverständlich würden, wenn Zavahl stürbe, die ersten beiden Neugeborenen im Bezirk, ein männliches und ein weibliches, für das Hierarchenamt und das Amt des Suffragan bestimmt werden. Seit sie wusste, dass Zavahl den Mord an der Händlersfrau befohlen hatte, war es mit ihrem Mitleid für ihn vorbei. Zuletzt hatte also seine, ihr neue Gefühllosigkeit und Brutalität dazu geführt, dass sie wegen seines bevorstehenden Todes kein Bedauern mehr für ihn empfand. Während der vergangenen Monate, in denen sie hatte mit ansehen müssen, wie Zavahl sich seinen Einfluss auf Callisiora entgleiten ließ, war sie von ihm enttäuscht gewesen und hatte sich zugleich darauf gefreut, ihrem Volk in tatkräftigerer und mitfühlenderer Weise zu dienen, wenn es so weit war. Doch nun war der Sturm vom Norden herangefegt und hatte alles geändert.
Dieser Sturm hatte Gilarra erst begreiflich gemacht, weshalb die Verantwortung stets so schwer auf Zavahl lastete. Ohne Unterlass musste sie an die Menschen denken, die in dieser Nacht im Schnee sterben würden. Ab morgen läge die Verantwortung für das Leben dieser Menschen in ihren Händen – es sei denn, dass Blank und Zavahl zurückkehrten.
Denn morgen würde man die Festnacht des Todes feiern. Das Volk würde das Große Opfer fordern, besonders jetzt, da der Schnee schon so früh eingesetzt hatte. Einen Ausweg gab es nicht, und wenn Zavahl nicht zur Verfügung stand, wäre Gilarra an der Reihe.
Der Sturm wirbelte unausgesetzt durch die Stadt. In einer solchen Schneenacht war Tiarond ungewohnt still. Die nächtlichen Gestalten, die sonst um diese Zeit die Straßen belebten, die Huren und die
Weitere Kostenlose Bücher