Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Gedanken. Sie fasste schon eine Abneigung gegen das Kind, weil es ihre Schwachheit bloßgestellt hatte.
»Es hat keinen Zweck – man muss wieder zu ihr hineingehen.« Der Satz glich so sehr ihrem Gedankengang, dass sie kaum glaubte, ihn gehört zu haben. Erstaunt fuhr sie herum. Presvel stand in der Tür mit einem Tablett in der Hand und brachte eine Karaffe und zwei Gläser. Seriema stöhnte auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Verdammt – wie viel hast du gesehen?«
»Genug, um das Übrige zu erraten«, antwortete Presvel, und es gab ein leises Klirren, als er das Tablett absetzte. Seriema nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn schmunzeln. Ihre Wangen brannten vor Scham. Doch Presvel beachtete ihre Verlegenheit gar nicht, sondern goss ihr einen Weinbrand ein und reichte ihr das Glas. »Bitte – trink das, Herrin. Ich habe den Eindruck, als könnte es dir gut tun.«
Presvel schenkte sich ebenfalls großzügig ein. Oh, Myrial, dachte er erschöpft, das ist zu viel für heute!
Er war soeben von seiner Liebschaft zurückgekehrt, die sein sonst so ruhiges Wesen vollkommen aufwühlte. Rochallas Trauer bekümmerte ihn sehr. Die Vorstellung, wie sie im Morgengrauen zum Friedhof gehen würde, mit dem Leichnam ihrer kleinen Schwester im Arm, zerriss ihm fast das Herz. Er hatte ihr alles Geld gegeben, das er bei sich gehabt hatte, doch darüber hinaus war er ein hilfloser Beistand gewesen und hatte ihren Schmerz nicht lindern können. Und dann, um alles noch schlimmer zu machen, hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn niemals wiedersehen wolle. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit glitten ihm die Dinge aus der Hand, fiel sein Leben in Scherben. Trotzdem hatte er sich nun gelassen und gut gelaunt mit dem Getue seiner verwöhnten Herrin zu beschäftigen, die einen Sturm im Wasserglas entfachte und als Krise ausgab. Manchmal war sie mehr, als ein Mann ertragen konnte!
Doch er wäre nicht Seriemas erster Diener gewesen, wenn er sein Handwerk nicht perfekt beherrscht hätte. Er holte tief Luft und setzte ein gleichmütiges Gesicht auf, als wäre die Welt in Ordnung. Gelassen stellte er sich neben ihren Schreitisch und nahm dankbar einen Schluck. »Myrial sei Dank, dass ich für jemanden arbeite, der ein Lieferant guter Weine und feiner geistiger Getränke ist«, sagte er leichthin. Für gewöhnlich genoss er es, der einzige Mensch zu sein, der ihre düstere Laune aufhellen konnte, und bildete sich ein, auch der Einzige in ganz Callisiora zu sein, der einen gewissen Einfluss auf sie besaß. Seine Herrin vertraute ihm – vielmehr war er der Einzige, dem sie wirklich traute. Er war für sie unentbehrlich, und dadurch bewahrte er sich seine wichtige Stellung. Die Kaufleute wussten genau, dass, wenn sie von Seriema irgendwelche Zugeständnisse haben wollten, ihr erster Diener der Mann war, an den sich wenden mussten. Ihre Dankbarkeitserweise hatten sich zu einer solchen Summe aufgehäuft, dass er es sich leisten könnte, Seriema zu verlassen – doch er verspürte keineswegs den Wunsch zu gehen. Er genoss es, die höchste Stellung in ihrem Haus innezuhaben, und die Autorität und Macht, die sein Einfluss ihm gab.
»Kümmere dich nicht um die geistigen Getränke!«, fauchte seine Herrin. »Was hast du gesehen, Presvel?«
»Gesehen habe ich nicht viel. Das Kind hat mich geweckt, weil es schrie – du solltest der Vorsehung danken, dass Marutha viel schlechter hört, als sie eingestehen möchte. Ich kam gerade den Flur herunter und sah dich aus jenem Zimmer hasten wie einen Hasen, dem der Schwanz brennt.« Er mühte sich ab, um ein Grinsen zu unterdrücken, und versagte auf ganzer Linie. »Es schien mir, als hättest du Haferbrei in den Haaren.«
Schließlich schien Seriema einzusehen, dass es zur Rettung ihrer Würde längst zu spät war, und gab den Kampf auf. Sie ließ sich schwer in den Lehnsessel am Kamin fallen und verschüttete beinahe ihren Weinbrand. »Oh, Presvel«, jammerte sie, »was soll ich nur tun?«
»Zunächst einmal austrinken, Herrin.« Presvel setzte sich in den Sessel gegenüber. »Nun sollten wir die Lage ruhig und eingehend betrachten. Für gewöhnlich trittst du viel größeren Problemen entgegen, und bislang bist du ungeschlagen. Sie ist doch nur ein kleines Mädchen. Was kann daran so schlimm sein?«
Du hast leicht reden, dachte Seriema verdrießlich. Du hast schließlich nicht die Verantwortung für das Kind übernommen. »Aber ich weiß nicht das Geringste über Kinder«, widersprach
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