Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sie gelobt hatte. Ob er diese Reise überleben würde, erschien ihr zunehmend zweifelhaft.
Aethon sah erbärmlich aus. Er trottete über den steilen, steinigen Weg, obwohl er kaum noch die Kraft besaß, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es muss eine furchtbare Anstrengung sein, einen massigen Körper vorwärts zu bewegen, der fast so lang ist wie eine Dorfstraße, dachte Veldan. Seine schuppige Gestalt, einst so goldglänzend und schillernd wie der Ring, den Veldan an einer Kette um den Hals trug, war nun stumpf und blassgelb wie Weizenstroh.
Der Gedanke, den Drachen zu verlieren, quälte sie und machte ihr Angst; nicht etwa nur wegen der Dringlichkeit ihrer Mission. Während der langen, entbehrungsvollen Reise war ihr Aethon ans Herz gewachsen. Sie hatte sich den Seher des Drachenvolkes als ehrfurchtgebietendes Wesen vorgestellt: förmlich, einschüchternd und erhaben. Stattdessen fand sie sich einem Drachen gegenüber, der gemessen an der Lebensspanne seiner Art noch recht jung war, und trotz der schweren Bürde seiner Berufung ein angenehmer Reisegefährte. Aethons Humor, seine Intelligenz und Lebensfreude hatten ihr die langen beschwerlichen Meilen verkürzt. Doch herrschte in ganz Callisiora ein nasskaltes, trostloses Wetter, und um keiner Menschenseele zu begegnen, waren sie gezwungen, in der Wildnis zu bleiben, sodass sie nur quälend langsam vorankamen. Aethons Kraft und Lebensmut nahmen mit jedem Tag ab, und Veldan brach es das Herz, dass sie mit ansehen musste, wie er langsam dahinsiechte. Der Seher war am Ende seiner Kraft. Er hatte den ganzen Tag kein Wort gesprochen, weder telepathisch, wie es die Hüter des Wissens zu tun pflegen, noch in der Drachensprache, die sich kompliziert verwobener Farbmuster und Lichtreflexe bediente, vermischt mit einschmeichelnden, klangvollen Tönen. Veldan vermutete, dass Aethon alle Kräfte für den Marsch sparte.
»Er sieht nicht allzu vielversprechend aus, oder? Selbst ich bezweifle langsam, dass er es schaffen wird, Boss.«
»Sch, Kaz«, schalt Veldan, obwohl sie wusste, dass ihr Partner ihr seine Gedanken völlig abgeschirmt mitteilte und dass Aethon sie keinesfalls empfangen konnte.
»Was denn? Der Arme ist schon halb entrückt. Er würde nicht einmal erschrecken, wenn ich ihm Feuer ins Ohr bliese.« Der schläfrige Schimmer in Kaz’ Augen nahm ein böses Glitzern an. »Ich hab’ da eine Idee …«
»Die Idee ist besser, als du glaubst.« Veldan sah vergnügt, wie dem Feuerdrachen vor Staunen die Kinnlade herunterklappte. Wie immer war er darauf aus gewesen, sie zu schockieren – was ihm gewiss nur selten misslang. »Der arme Aethon ernährt sich von Sonnenlicht, wie du sehr wohl weißt«, fuhr die Wissenshüterin fort. »Zwar könnte ihm ein Feuerstrahl im Ohr ein bisschen Unbehagen bereiten, aber wenn du stattdessen einen in seiner Nähe ausstoßen würdest, wäre das vielleicht gerade das Stärkungsmittel, das er benötigt.« Dann fügte sie tadelnd hinzu: »Ich habe eigentlich angenommen, dass du ein wenig mehr Sympathie für ihn übrig hast.«
»Nur weil wir bei der evolutionären Verzweigung denselben Ast erwischt haben?«, schnarrte Kaz, wobei die Neigung seines langen, eleganten Kopfes ganz Ausdruck seines Spotts war. »Tschaaaa!« Sein angeekeltes Schnauben glich dem explosiven Zischen eines entweichenden Dampfstrahls. »Die Drachen haben irgendwann entschieden, sie seien zu intellektuell und hoch entwickelt, um Fleisch zu fressen, dadurch haben sie sich verändert – und nun besitzt er die Frechheit, den Rüssel zu rümpfen und auf mich herabzublicken, als würde ich einer primitiven Art angehören! Nun, sieh selbst, wohin diese Blasiertheit ihn jetzt gebracht hat!«
Veldan unterdrückte die beißende Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, denn damit hätte sie seine Haltung nicht im Geringsten geändert. Außerdem waren sie seit fast zehn Jahren Partner. Sie hatte längst bemerkt, dass er auf den Seher des Drachenvolkes eifersüchtig war. Überraschenderweise hatte diese Eifersucht aber nichts mit Aethons einzigartiger Begabung zu tun. Aethon konnte seinen Geist auf die Wanderung durch die pfadlosen Nebel der Zeit schicken, um einen quälenden Ausblick in die Zukunft zu erhaschen, der oft undeutlich und manchmal grausam klar war. Kaz begriff durchaus, dass eine derart lose Verankerung in der Zeit viel eher geistige Zerrüttung bedeuten konnte als dass sie ein Segen war. Aethon besaß kaum Einfluss darauf, was er zu sehen bekam. Manchmal
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