Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
sich die Bescherung näher anzusehen. Doch ein Laut, halb Knurren und halb Schniefen, ließ sie auffahren. Am Ende der Veranda erblickte sie das unheimlichste Wesen, dem sie je außerhalb eines Alptraums begegnet war, einen Muskelberg, der einer Echse ähnelte und der sie höflich wartend aus bunt glühenden Augen ansah. Toulac brach in lautes Gelächter aus. Die furchteinflößende Kreatur hätte wie der leibhaftige Tod gewirkt, wenn sie nicht gerade so unbeholfen versucht hätte, mit der Klaue das Blut wegzuwischen, das ihr aus der übel zugerichteten Nase lief.
Lange schlaflose Nächte können zu einer schrecklichen Last werden, besonders für einen Anführer, der ein ganzes Panoptikum von Sorgen im Kopf hat. Und einem Zentauren ist es nicht möglich, sich im Bett zu wälzen wie ein Mensch, denn dazu eignet sich sein Körper nicht. Trotzdem verbrachte Cergorn schon die ganze Nacht damit, rastlos in seinem Bett herumzurutschen. Die eine Hälfte mit dem federnden, duftenden Farnpolster, das so erholsam für Pferdebeine war, erschien ihm gänzlich unbequem, und die andere Hälfte, wo er seinen menschlichen Leib ruhen ließ, fühlte sich trotz aller Kissenberge und weichen Felle hart an.
Er hatte sich sehr bemüht, so ruhig wie möglich liegen zu bleiben, doch zweifellos nicht genug. Cergorn fluchte leise, als er seine Lebensgefährtin seufzen hörte, und drehte sich zu ihr um. Sie stieß ihm den Ellbogen ins Gesicht, als sie sich die Augen rieb. »Wassis los?«, murmelte Syvilda und klang wenig freundlich. Cergorn hörte sie herzhaft gähnen. »Heute Nacht hast du keine Stelle im ganzen Bett ausgelassen. Es ist, als wollte man neben einem Springhasen schlafen.«
»Tut mir Leid, Syvilda«, antwortete Cergorn kleinlaut. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, dich nicht zu stören!«
»Ha. Das glaubst aber nur du. Ich kenne dich, Cergorn – nach all den Jahren, sollte ich das wohl. Wenn du so herumzappelst, dann willst du nur eines: dich selbst von all deinen nächtlichen Grübelproblemen befreien und sie auf meinen Schultern abladen.« Syvilda tastete nach der Öllampe auf dem Nachttisch und zündete sie an. Wegen des weichen, warmen Lichts bevorzugte sie diese Art Schlafzimmerbeleuchtung.
Obwohl sie griesgrämig klang, erkannte Cergorn mit einem Blick in ihr verschlafenes, zerknittertes Gesicht, dass sie es ihm nicht allzu übel nahm, geweckt worden zu sein. Ein gewisses Zwinkern in ihren klugen dunklen Augen versicherte ihn ihrer Zuneigung und ihres Mitgefühls. Sie war bereit, mit ihm die ganze Nacht aufzubleiben, bis er sich alles von der Seele geredet und wieder einen klaren Kopf hätte.
Wie schön meine Gefährtin doch heute Nacht aussieht, dachte Cergorn. Ihr schwarzes Fell mit den blendend weißen Sprenkeln auf Rücken und Flanken glich wahrhaftig dem Sternenhimmel und glänzte wunderbar. Ihr silbernes Haupthaar, sonst tadellos frisiert, war vom Schlaf zerzaust. Der sanfte Schein der Lampe glättete die Linien ihres Alters und schuf die Illusion blühender Jugend, die bis Tagesanbruch dauern würde. Doch die wahre tiefe Schönheit ihres Gesichts war keine Illusion. Der klaren Reinheit der Wangenbögen, dem Schwung der Augenbrauen und der eleganten Nackenlinie konnte das Alter nichts anhaben. Cergorn liebte dieses Gesicht nun schon seit über einem Jahrhundert, und er wusste, er würde es auch für den Rest seines Lebens lieben.
In dem Moment stieß ihm seine Liebste heftig in die Rippen. »Also?«, fragte sie in ironischem Tonfall. »Du hast mich geweckt, damit ich dir zuhöre, und jetzt bist du verschlossen wie eine Auster. Du solltest lieber bald mit Reden anfangen, denn wenn ich umsonst auf meinen Schönheitsschlaf verzichte …« Die Drohung ließ sie unausgesprochen.
Cergorn warf mit einer Bestürzung, die nicht allzu echt war, die Hände empor. »Wo soll ich nur anfangen? Wir haben ja nur noch die halbe Nacht Zeit.«
Syvilda sah ihn tadelnd an. »Jetzt übertreibe nicht, Cer! Du hast genug Probleme, du musst sie nicht noch größer machen, als sie sind. Außerdem weiß ich schon alles über den Verfall der Schleierwand, schließlich haben wir damit schon seit einiger Zeit zu kämpfen. Also, mein Lieber, du hast doch etwas ganz anderes auf dem Herzen. Was ist los? Sorgst du dich um deine Partnerin? Du musst sie sehr vermissen.«
»Das ist wahr«, gestand Cergorn, und innerlich segnete er sie für ihr großzügiges, verständnisvolles Herz. Syvilda war Mitglied des Schattenbundes, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher