Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
dem kurzen Nachlassen des Windes zwischen zwei Böen hörte sie es: das dumpfe Patschen schwerer Fußtritte im Morast. Es gab ein hartes Klicken, als sie die Tasse auf dem Kaminsims absetzte. Sie richtete sich auf. Etwas bewegte sich draußen – und was es auch war, es musste verdammt groß sein!
Klirrend zerbrach das Geschirr in der Ecke, als Mazal in Panik ausbrach. Er trat mit den Hinterbeinen in die alte Anrichte und brachte ein paar Tellerstapel zum Einsturz. Unter seinen Hufen knirschten die Steingutscherben, während er sich enger in die Ecke zu drängen versuchte. Das Pferd hatte die Ohren angelegt, bleckte die Zähne und rollte wild mit den Augen. In all den Jahren hatte Toulac Mazal noch nie so erschrocken gesehen, doch es blieb keine Zeit, um ihn zu beruhigen. Mit fester Hand ergriff sie das Schwert, erhob sich lautlos auf die Füße und schlich zum Fenster. Wenn sie durch den Ladenspalt linste, könnte sie vielleicht einen Blick darauf erhaschen, womit sie es zu tun bekäme …
Sie war auf halbem Wege, als sie das Holz splittern hörte. Etwas war gegen die dicken Verandapfosten gestoßen und hatte sie eingeknickt wie Zahnstocher. Toulac schlug das Herz bis zum Hals. Was, o Hölle und Verdammnis, befand sich dort draußen? Gab es Myrial am Ende doch, und sie schickte ihr dieses Ding als Antwort auf ihre frevelhafte Lebensmüdigkeit? Wäre das nicht ein Witz? Ein hartes Kratzen dicht vor der Tür brachte sie in die Situation zurück. Tatsächlich. So, so. Der Eindringling hatte also nicht vor, gleich wieder zu verschwinden. Wenn sie die nächsten Augenblicke überleben wollte, dann wäre es wahrscheinlich nicht besonders klug, sich einfach zu verstecken.
Jedenfalls erschien ihr das Leben plötzlich viel süßer als in den vergangenen Monaten. Sie wagte sich zum Feuer hinüber, nahm ein langes Holzscheit vom Stapel und stieß es in die Flammen, bis es wie eine Fackel brannte. Mit dem Schwert in der einen und dem brennenden Scheit in der anderen Hand näherte sie sich der Tür. Sie erwartete jeden Augenblick, dass die schwere Holztür barst und krachend nach innen aufschlug. Sie irrte. Stattdessen hörte sie es mehrmals pochen, scheinbar wuchtig und doch sacht, als versuche ein Riese seine zerstörerische Kraft im Zaum zu halten und vorsichtig anzuklopfen.
Toulac schluckte hart. »Wer du auch seist, nach Einbruch der Dunkelheit öffne ich niemandem mehr die Tür. Und nun verschwinde! Mach, dass du wegkommst!« Sie kam sich zwar mächtig blöd dabei vor, doch das laute Rufen hatte ihr Mut gemacht.
Dann trat Stille ein. Mazal zitterte in seiner Ecke. Sein graues Fell glänzte schwarz vor Schweiß. Auch Toulacs Hand um den Schwertgriff wurde langsam feucht.
Dann traf etwas mit fürchterlicher Wucht die Tür. Krachend brach der Riegel, und das Holz riss splitternd aus den Angeln. Toulac sprang zurück, als die Tür aufflog und auf den Boden prallte.
Das war zu viel für Mazal. Ehe Toulac irgendetwas tun konnte, um ihn aufzuhalten, brach er aus seiner Ecke aus und flüchtete durch den offenen Ausgang ins Freie. »Nein!«, schrie Toulac. Und während der Hufschlag mit der Entfernung schwächer wurde, hörte sie das durchgehende Pferd noch ein paar Mal angstvoll wiehern.
In dem rechteckigen Ausschnitt der tintenschwarzen Nacht, wo zuvor die Tür gewesen war, konnte Toulac keine Anzeichen für eine Gefahr entdecken. Das Raubtier musste Mazal gefolgt sein … Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ärgerlich wischte sie sie fort, nur um gleich neue vorzufinden. »Sei nicht so sentimental!«, brummte sie wütend. »Das dumme Tier hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet – lass die Chance nicht verstreichen.«
Sie schlich vorsichtig über die ausgerissene Tür und hoffte einen Augenblick lang, sie wieder reparieren zu können. Als sie draußen war, sah sie als Erstes die dunklen roten Flecke auf dem Boden. Blut? Wie seltsam! Sie hielt inne und stieß einen leisen Fluch aus. Mit dem brennenden Holzscheit leuchtete sie den Holzboden der Veranda ab, die die ganze Front des Hauses einnahm. Auf der obersten Treppenstufe lag eine Frau. Sie war schlamm- und blutverschmiert, und sie schien tot oder bewusstlos zu sein, mehr war nicht zu erkennen. Vor der Frau waren die Dielen wie von riesigen Krallen völlig zerkratzt, jedoch eines war merkwürdig: die Kratzer bildeten fünf große, krakelige Zeichen, und ihre Bedeutung war glasklar. Da stand:
HILFE.
»Ich will verdammt sein«, murmelte Toulac und bückte sich, um
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