Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
die Nüstern, weil er die Äpfel und das Getreide witterte, und zweifellos versprach er sich noch allerhand ähnliche Genüsse. Dies war doch etwas ganz anderes als der dunkle, einsame Stall, in dem er sonst gestanden hatte!
Toulac warf die Tür hinter sich zu. Wie gut, dass diese Wichtigtuer in der Stadt sie jetzt nicht sehen konnten. Ein Pferd in der Küche! Das würde sie ein für alle mal davon überzeugen, dass die schäbige alte Schlampe oben in den Bergen endgültig verrückt geworden war. Aber sie besaß Mazal, seit er ein Fohlen gewesen war, und hatte ihn selbst zugeritten. An diesem Abend, wo sie in so düsterer Stimmung war, erschien ihr seine Gegenwart irgendwie tröstlich. Von ihren alten Kameraden war er als Einziger übrig geblieben – warum zum Teufel sollte er draußen in dem elenden kalten Schuppen stehen? Vielleicht würde seine Gesellschaft ihr die Gespenster vertreiben …
Toulac stellte die Lampe auf den Tisch und sah die Dämmerung draußen rasch in Dunkelheit übergehen. Energisch stocherte sie in der schwachen Glut, dem Rest des morgendlichen Feuers, und häufte etwas Anmachholz darauf, um es wieder zum Leben zu erwecken. Genau wie wir, dachte sie und betrachtete die winzigen roten Feuerknospen an den trockenen Zweigen und lauschte dem Knistern und Knacken des Holzes, als das Feuer erwachte. Auch das Feuer braucht Luft und Nahrung zum Leben und nicht zu vergessen ein wenig Aufmerksamkeit. Toulac verzog das Gesicht vor Abscheu, als sie begriff, welche Richtung ihre Gedanken schon wieder einschlugen. Der Weg des Selbstmitleids führt direkt in die Selbstzerstörung, so viel erschien ihr gewiss. Bisher war es ihr noch jedes Mal gelungen, wieder umzukehren. Aber eines Tages – wer konnte das wissen? – würde sie der Straße vielleicht bis zum bitteren Ende folgen.
Toulac schrak zurück, als habe sie sich verbrannt. Sich beschäftigen war besser, als vor sich hin zu brüten. Sie legte noch etwas Holz nach, zog den Mantel aus und begann, den müden Mazal trockenzureiben. Dann überließ sie ihm eine Ecke der Küche zusammen mit einer Schüssel Getreide und seiner Leibspeise gehackten Möhren. Für sich selbst schnitt sie eine Scheibe vom kalten Braten ab und aß sie mit einem Stück Brot. Seit den Bauern das Vieh Stück für Stück zugrunde ging, konnte man jederzeit Fleisch bekommen, wenn man die richtigen Leute kannte. Das Kochen war noch nie ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen, und sie hatte nicht vor, sich jemals damit aufzuhalten, wenn es nicht unbedingt notwendig war.
Ein schützender Instinkt sagte ihr, dass es eine schlechte Idee wäre, sich in dieser Nacht zu betrinken. Sie war ohnehin schon gefühlsselig genug und brauchte dabei keine weitere Unterstützung. Dennoch ging sie an den Whiskeykrug und goss sich großzügig ein, wobei sie sich ermahnte, dass es bei diesem Quantum bleiben müsse. Dann ließ sie sich im Schaukelstuhl beim Feuer nieder, nahm das Schwert auf und begann die blanke Klinge zu reinigen. Damit waren ihre Hände beschäftigt, während sie sich ernsthaft Gedanken über ihre Zukunft machte.
Hatte sie es ernst gemeint, als sie diesem Frömmler sagte, sie würde die Sägemühle schließen? Da war wohl das Temperament mit ihr durchgegangen! Du alte Närrin!, schalt ihr vernünftiges Ich die tollkühne Abenteurerin, die über all die Jahre kaum älter geworden war. Was in Myrials Namen hast du dir dabei gedacht? Sieh den Tatsachen ins Auge, Toulac – so schwer die Bürde auch lasten mag, ohne die Mühle müssen wir verhungern. Niemand nimmt eine Sechzigjährige als Söldnerin oder gar als Leibwächterin! Doch so gut sie wusste, dass das einzig Vernünftige – und in Wirklichkeit das einzig Mögliche – in der weiteren Unterhaltung ihrer Mühle bestand, so sehr weigerte sich ihr störrisches Herz, die wenigen verbleibenden Lebensjahre mit nutzloser Plackerei zu verschwenden. Was soll ich aber tun? Was kann ich tun? Wohin soll ich gehen? Die Fragen gingen ihr im Kopf herum wie eine Litanei. Es muss doch etwas geben. Dass muss es einfach!
Der Schaukelstuhl knarrte leise, während das Feuer prasselte und knackte. Aus Mazals Ecke kam ein beständiges Schmatzen. Gelegentlich wurden diese friedvollen Geräusche von einem heftigen Windstoß übertönt, der den Regen gegen die Fenster trieb und an den Läden rüttelte. Toulac war durch unzählige wache Nächte in der Einöde daran gewöhnt und nahm schon die geringste Änderung im Zusammenklang der Geräusche wahr. In
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