Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
teilten sich die Nebel, die die Zukunft verbargen, und enthüllten ihm, wonach er suchte, aber viel häufiger blieben die Visionen zusammenhanglos und waren nicht zu deuten. Auch isolierte ihn sein Talent von den anderen Drachen. Niemand wollte einer Kreatur zu nahe kommen, die eingehende Kenntnis seiner Zukunft besitzen mochte, der schlechten ebenso wie der guten – ganz zu schweigen von Zeit und Umständen des Todes. Aber auch umgekehrt galt, dass Aethon leidvoll hatte lernen müssen, engen Freundschaften auszuweichen. Das sichere, aber geheime Wissen um die verbleibende Zeit eines geliebten Gefährten wäre mehr gewesen, als er ertragen konnte. Wahrhaftig, der Seher hatte seine Gabe teuer bezahlt. Auf all ihren Reisen hatten die Hüter des Wissens keine einsamere Kreatur gesehen als Aethon.
Kazairl beneidete den Seher also keineswegs um seine Gabe, aber er war, wie Veldan bemerkt hatte, über ihre Zuneigung zu Aethon leicht verärgert, denn sie war ihm während der gemeinsamen Reise näher gekommen als sonst jemand. Außerdem kam Kaz nicht umhin, Aethon um seine Pracht zu beneiden. Zum einen war Aethon dreimal so groß wie Kazairl, der von der Nase bis zum Schwanz nur etwa achtzehn Fuß maß. Zum anderen leuchtete Aethon wie glänzendes Gold, wogegen Kaz’ Schuppen ein buntes Gemisch sanft schimmernder, metallischer Schattierungen bereithielten, die er nach Belieben der Umgebung anpassen konnte. Tatsächlich fand Veldan die raffiniert changierende Färbung ihre Freundes viel schöner. Aber wenn sie ihn davon überzeugen wollte, war ihr nicht mehr Erfolg beschieden als ihm, wenn er sie überreden wollte, sich der Maske zu entledigen.
Am schwersten von allem wog, dass Kaz den Drachen bitter um seine Flügel beneidete, diese weiten, durchscheinend goldenen Schwingen, die gerippt waren wie Fledermausflügel, gesprenkelt mit dunkleren schimmernden Schuppen und durchzogen von einem Netz silberner Adern. Es ist eine Tragödie, dass eben diese Flügel wahrscheinlich der indirekte Grund für seinen Tod sein werden, dachte Veldan traurig. Weil das Sonnenlicht fehlte, das die Flügel über ihre große Oberfläche aufnahmen, starb Aethon langsam den Hungertod. Wegen der klimatischen Umwälzungen in den vergangenen Monaten stand seinem ganzen Volk dasselbe Schicksal bevor.
In der vorigen Nacht waren sie unentdeckt durch die Hauptstadt von Callisiora geschlichen, die sich Tiarond nannte. Veldan war froh, dass sie nichts hatte sehen können. Der anhaltende Regen dürfte der Stadt und ihren Bewohnern nicht gut getan haben. Sie wollte sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie sie zuletzt gesehen hatte: eine Stadt von strenger Schönheit, deren steile Straßen in Serpentinen zu hochgelegenen, in den Berg gehauenen Terrassen führten, und deren Mauern, Türme und Bauten allesamt mit großer Kunstfertigkeit aus dem goldgelben Gestein der Gegend erbaut waren.
Veldan seufzte. Sie waren dem Ziel so nah und doch noch so fern. Wenn wir es über den Schlangenpass schaffen, dachte sie, dann haben wir nur noch eine Tagesreise und die folgende Nacht vor uns – und wir sind zu Hause. Aethon kann an dem Rat teilnehmen, wegen dem er den ganzen Weg gekommen ist. Hoffentlich ist das Wetter in Gendival besser …
»Veldan, können wir eine Weile rasten?« Die mentalen Klänge des Drachen kamen matt und schwindend.
Bei dieser dichten Bewölkung war es schwer festzustellen, auf welche Stunde es zuging, aber Veldan nahm an, dass es früher Nachmittag war. Mist, dachte sie. Wir müssen vor Einbruch der Nacht über den Pass kommen und den Unterstand auf der anderen Seite erreichen! Wenn wir ihn jetzt rasten lassen, wird er nie wieder aufstehen. Sie suchte nach einer Antwort, mit der sie diese grausame Wahrheit abmildern konnte. »Es tut mir Leid, Aethon, aber du musst versuchen, noch ein kleines Stück weiterzugehen. Wir sind schon weit gekommen und haben nur noch ein, zwei Meilen vor uns. Wenn wir oben auf dem Pass sind, ruhen wir uns aus, das verspreche ich.«
»Sehr gut – ich will es versuchen. Ich beuge mich deiner Erfahrung.« Der Gedanke des Drachen war begleitet von einem müden Seufzer, und Veldans Herz zog sich vor Mitleid zusammen.
Sie hatten nun fast die Baumgrenze und die dichte Wolkendecke erreicht, in der die höheren Wipfel verschwanden. Veldan überlief ein Schauder. Der Schlangenpass war noch nie ein erbaulicher Flecken gewesen, doch jetzt erschien er ihr geradezu unheimlich. Zerklüftete Felsen ragten zu beiden Seiten
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