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Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial

Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial

Titel: Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Furey
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verhungerten oder starben an den Krankheiten, die sich ausbreiteten wie ein Waldbrand. In den Straßen lauerten Gewalt und Habgier wie Raubtiere auf Beute, während Trauer und Elend sich über die Stadt legten gleich dem dunklen Sargtuch der tief hängenden Wolken. Die Stadt und das ganze Reich warteten auf Hilfe von Zavahl. An ihm war es, sich bei ihrem Gott für sie einzusetzen – doch darin versagte er. Eindeutig war Myrial über seinen Diener verärgert. Das Unglück ist meine Schuld, dachte Zavahl düster. Ich habe versagt.
    Würde er auch diesmal scheitern? Der Hierarch zog sich die Schuhe aus und setzte das schmale Diadem ab, dessen purpurroter Stein auf seinen Rang hinwies. Er tat einen tiefen Atemzug, schob einen Flügel des Gitters beiseite und trat barfuß und barhäuptig durch das dunkle, furchteinflößende Portal.
    Der endlos erscheinende schwarze Raum, der größer war als der Tempel selbst, versetzte ihn auch nach dreißig Jahren noch in Erstaunen. Als Zavahl sich zum ersten Mal durch das Tor wagen musste, war er ein kleiner Junge von kaum fünf Jahren gewesen. Damals hatte er sich am meisten deswegen gefürchtet, weil er allein hindurchschreiten musste, denn der Hierarch ging immer allein an diesen furchtbaren, geheimnisvollen Ort, der allen verboten und ihm allein vorbehalten war – wo der Priesterkönig vor seinen Gott trat. Doch so klein er war, zum Weinen war er viel zu stolz, aber er zitterte so sehr, dass er kaum stehen konnte. Die strengen, hartgesichtigen Priester wie der alte Malacht, der ihn großgezogen hatte, aber auch die milderen, mitfühlenden, öffneten den Gitterflügel und stießen ihn hindurch. Die Erhabenheit des Tempels, sein weiter widerhallender Raum wirkten einschüchternd auf ihn, doch hatte er aus irgendeinem Grund erwartet, dass das Allerheiligste, das sich hinter einem so feinen silbernen Gitter verbarg, ein kleiner, intimer Raum sein müsse. Die anfängliche Erschütterung und Ehrfurcht bei seinem ersten Schritt in Myrials dunkles Herz war Zavahl sein ganzes Leben geblieben.
    Nun fanden seine Füße mit der Sicherheit langer Jahre den Weg durch die dunkle Leere hinter dem Portal. Die Stille war so tief, dass er glaubte, sein Herz pochen zu hören. Selbst das leise Schlurfen seiner Schritte ging in der immensen Weite des Raums verloren. Vollkommen konzentriert und vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Denn trotz der vollkommenen Dunkelheit wusste er, dass er eine Brücke überquerte, einen schmalen flachen Bogen ohne Bordstein und Geländer, der über das Nichts führte, einen Abgrund, dessen Tiefe das menschliche Begreifen überstieg.
    Zavahl schlich vorwärts, schüchtern und unscheinbar wie das Kind, das er einmal gewesen war. An diesem Ort versiegten die Macht und der Schutz eines Priesterkönigs zu Nichts. Und so sollte es auch sein. Was war ein bloßer Mensch, wie mächtig er auch sei, im Vergleich zu der Gewaltigkeit des Einen, der zugleich Welt und Schöpfer war?
    Unterdessen zählte der Hierarch sorgsam seine Schritte, um sich die Vorstellung zu erhalten, wie weit er gekommen war; keinen Augenblick vergaß er den unermesslich tiefen und tödlichen Abyssus, der keine Handbreit neben seinen unsichtbaren Füßen drohte. Er war schon müde vom Gehen, von der Belastung und Anspannung, als er schließlich gewahr wurde – vielleicht durch eine Veränderung des Bodens oder allein aus Instinkt –, dass er das Ende des Weges erreicht hatte.
    Zuversichtlich und ohne zu tasten streckte er die Hand im Dunkeln aus und berührte die Säulenplatte. Sie bestand aus einem glatten, unbekannten Material, das sich weder kalt noch warm anfühlte. Er fuhr mit den Fingern über das abgeschrägte Ende, fand das ausgesparte Oval und legte die flache Hand auf die glatte Oberfläche. Es gab ein lautes Klicken, als der rote Stein am Ring des Hierarchen, der nach innen getragen wurde und dessen Gegenstück sich auf dem Diadem befand, wie ein Schlüssel in der kleinen Höhlung versank, die eben zu dem Zweck geschaffen war, diesen Stein aufzunehmen.
    Ein tiefes Rauschen, wie ein gigantisches Atemholen, unterbrach die Stille, zugleich erwachte ein kaum merkliches Glühen, das ein dunkelrotes Licht entfachte und zu einem riesigen Kreis formte, der vor dem hoffnungsvollen Priester senkrecht in der Dunkelheit schwebte. Das Zentrum des Kreises blieb so dunkel wie der Raum ringsum – ein Fenster zur Ewigkeit, die Pupille des Auges.
    Das Rauschen schwoll an und füllte den Raum, als

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