Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
überstehen, hatte er sich Aveole aus dem Kopf schlagen müssen, teils weil er sich verzweifelt nach ihr sehnte und er keine Schwäche an sich zulassen durfte und teils weil er wusste, dass sie ihn dafür hassen und verachten würde, was aus ihm geworden war. Der Anblick von Veldans Gesicht hatte sie ihm zurückgebracht, und damit auch die Erinnerung, dass er einmal unschuldig und selbstlos das Gute in der Welt angestrebt hatte.
Nun, dies war nicht der Augenblick, um an solche Dinge zu denken. Energisch richtete Amaurn seine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Lage. Die Sache mit Veldan würde warten müssen, bis er die angemessene Muße dafür hatte – auch wenn das in weiter Ferne zu liegen schien. Jetzt musste er sich allein darauf besinnen, die Macht über den Schattenbund zu erlangen. Das war es schließlich, worauf er all die Jahre hingewirkt hatte.
»Ich bin fast durch«, sagte der Gaeorn erleichtert, und die Worte klangen wie rollender Schutt und knirschende Glasscherben.
Amaurn tat einen tiefen, schaudernden Atemzug. »Dann ist der Augenblick gekommen.«
Ein Lichtstrahl stach in den dunklen Tunnel, als die letzte Steinschicht fiel. Sofort stellten sich Maskulus Augen darauf ein und setzten die räumliche Wahrnehmung durch die Borsten an seinen Körpersegmenten außer Kraft. Ohne weitere Ankündigung stürmte er durch das Loch im Fußboden der Alvabehausung, und die anderen mit Amaurn an der Spitze folgten ihm dichtauf über die Schotterrampe in das darüberliegende Zimmer.
Die Behausung der Alva lag an dem bewaldeten Hang unweit von Veldans Haus. Von außen sah der halbkugelförmige Bau wie ein Wespennest aus, und die papiernen Wände des einzigen Raumes wirkten von innen zart und durchscheinend. Doch Skreeva hatte ihr Heim aus gekautem Zellstoff gebaut und der getrocknete Speichel machte ihn hart und zäh, sodass die Wände robuster waren, als sie aussahen.
Skreeva saß in einem Gewirr von Blattpflanzen, die aus dem Boden wuchsen und zwischen deren Zweigen ein Nest aus Seidenfäden gespannt war, in dem sie augenscheinlich ruhte. Sie drehte kaum den Kopf nach den Eindringlingen, die durch den Boden ihres Hauses einbrachen, und ihr starres Gesicht mit den herausstehenden Augen zeigte keinerlei Mimik.
Der Gaeorn rückte zur Seite, um Amaurn vortreten zu lassen. Die Alva richtete ihren kalt glitzernden Blick auf ihn, das Licht blitzte an den Kanten ihrer Zangen. Sie hatte sich kaum bewegt, und doch war die Bedrohung, die von ihr ausging, fast zum Greifen. »Amaurn. Nach all der Zeit hast du die Stirn zurückzukommen. Cergorn wird sehr erfreut sein, dich zu sehen. Er hat nie vergessen, dass du bei ihm eine Rechnung offen hast.«
»Er dürfte weniger erfreut sein zu erfahren, dass deine Treue anderen gilt, Skreeva«, erwiderte Amaurn kühl. »Für wen hast du Zavahl entführt? Zufällig für das Drachenvolk? Das drängt sich jedenfalls auf.«
»Es ändert nichts mehr, wenn ich es dir sage, nicht wahr?«, antwortete sie leichthin. »Der Seher ist für ihr Volk lebenswichtig. Sie wollten ihn wieder bei sich haben, wo er sicher ist, und es ist ihr gutes Recht, ihn zurückzubekommen.«
»Der Schattenbund braucht ihn hier«, sagte Amaurn in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Sein Wissen ist notwendig, um die Schleierwand wiederherzustellen. Du musst ihn hierher zurückbringen, Skreeva. Die ganze Zukunft steht auf dem Spiel, nicht nur für das Drachenvolk, sondern für uns alle.«
»Das kann ich nicht. Ich habe den Drachen mein Wort gegeben.« Die Anspannung unter den Zuhörern wuchs, wenngleich Skreevas Stimme gleichmütig und ihr maskenhaftes dreieckiges Gesicht ohne Regung blieb. Während des ganzen Wortwechsels wirkte sie wie eine Statue aus gelbgrüner Jade. »Der Seher wird zu den Drachen zurückgebracht werden. Wenn du ihn haben willst, musst du mit ihnen verhandeln.«
Amaurn fixierte die Alva mit seinen bezwingenden grauen Augen. »Zum letzten Mal: Rufe deine Sklaven zurück.«
»Sonst geschieht was?« Zum ersten Mal war ein Anflug von Spott zu hören.
»Sonst geschieht das!« Maskulu hatte genug von der Erörterung. Er warf sich nach vorn, und plötzlich war die Alva wie verwandelt. Sie sprang aus ihrer Ecke hervor, breitete die Flügel wie einen raschelnden Umhang aus und streckte die Furcht erregenden Arme mit den messerscharfen Sägekanten vor, bereit zuzugreifen und zu töten. Als der Gaeorn auf sie zukam, sprang sie zur Seite, ein Arm sauste nieder, um ihm einen Teil seiner Beine
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