Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
lächelte sie schief an. »Gemäßigte Rücksichtslosigkeit? Das nenne ich eine aufrüttelnde Losung.« Er zögerte. »Und du? Könntest du einem kaltblütigen Mörder so einfach verzeihen?«
Veldan schüttelte ernst den Kopf. »Nein. Aber ich werde mir Mühe geben. Im Augenblick kannst du wahrscheinlich von keinem hier mehr verlangen. Aber am Ende sollte jeder die Möglichkeit erhalten, seine Vergangenheit zu sühnen.«
»Ich werde mein Bestes tun – falls man mich lässt.« Amaurn stand auf und stellte sich den anklagenden Blicken der Umstehenden. »Ich bedaure Skreevas Tod«, sagte er, »aber er war notwendig. Sie war eine Agentin des Drachenvolkes. Wenn auch Cergorn nicht glaubt, dass der Mensch, den Wissenshüterin Veldan hierher gebracht hat, den Geist des Sehers Aethon in sich trägt, so haben immerhin die Drachen keinerlei Zweifel daran, und ich ebenfalls nicht. Aethons uraltes Wissen bedeutet für uns die leise Hoffnung, dass wir das Geheimnis der Schleierwand lösen können. Wenn wir ihm erlaubt hätten, nach Zaltaigla zurückzukehren, wäre diese Hoffnung ein für alle Mal dahin gewesen.«
»Aber …«, ließ sich Vaure zögerlich aus der Menge vernehmen. »Ich dachte, du willst die Schleierwand gar nicht wiederherstellen. Du hast doch immer gesagt, dass es falsch ist, die Bewohner dieser Welt wie Vieh einzupferchen.«
Amaurn nickte. »Vielleicht ist es falsch. Und vielleicht können wir später für einen Austausch von Wissen sorgen, oder sogar für Reisen zwischen bestimmten Ländern. Aber wir sehen zur Zeit, was passiert, wenn die Schleierwand durchlässig ist. Ob wir sie nun für richtig halten oder nicht, wir haben schmerzhaft erfahren müssen, dass sie ein überlebenswichtiger Bestandteil unserer Welt ist und dass wir die Beschaffenheit der einzelnen Länder schützen müssen.«
»Cergorn hatte also Recht?«, fragte jemand.
Amaurn spürte, dass die Zukunft von diesem Augenblick abhing. »Er hatte Recht damit, die Schleierwand zu bewahren. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass er sich darin irrte, so viel Wissen den Völkern dieser Welt vorzuenthalten. Wenn sie mehr Kenntnisse hätten, wären sie nun gegen die verschiedenen Katastrophen besser gerüstet. Aber dies ist weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort, um solche wichtigen Fragen zu erörtern. Unsere vorderste Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir überhaupt eine Zukunft haben. Nur dann können wir darüber sprechen, wie sie beschaffen sein soll.« Er seufzte tief. »Solange diese Krise andauert, braucht der Schattenbund einen Anführer, der bereit ist zu handeln und einige schwierige Entscheidungen zu fällen. Gebt mir eure Unterstützung, bis wir unsere Welt wieder in Ordnung gebracht haben. Danach, wenn Cergorn überlebt hat und wenn er oder ein anderer der Archimandrit sein will, können wir darüber neu abstimmen.«
Er war selbst überrascht, dass er es aufrichtig meinte. Als Hauptmann Blank hatte er sich alles mit Gewalt verschafft und seine Ziele mit allen Mitteln verfolgt. Als Archimandrit des Schattenbundes wollte er die Achtung und Unterstützung der Wissenshüter oder sein Sieg wäre wertlos.
Amaurn bemerkte die abwartende Stille und riss sich aus seinen Gedanken. »Nun?«, verlangte er zu wissen. »Wollt ihr mir folgen?«
Zögerlich gaben die Wissenshüter ihre Zustimmung. Die Antwort kam nicht aus ganzen Herzen, wie er sich gewünscht hatte, aber er wusste, dass er zu Recht nicht mehr erwarten konnte und nicht mehr verdiente. Es ließ sich nicht rückgängig machen, was er während seiner Verbannung getan hatte, und wenn sich seine Taten im Schattenbund erst einmal herumsprachen, wie es immer geschah, kamen sicher noch mehr Unannehmlichkeiten auf ihn zu.
Und ich sollte beten, dass sie niemals herausfinden, wer ursprünglich für die Störung der Schleierwand verantwortlich ist. Sonst reißen sie mich in Stücke.
Er blickte zu Veldan hinüber. Wenn sich die Vergangenheit auch nicht mehr ändern ließ, so konnte er doch auf die Zukunft einwirken. Was hatte sie noch gesagt? Jeder sollte die Möglichkeit bekommen, zu sühnen.
Amaurn richtete sich wieder an die wartenden Wissenshüter. »Wir wollen keine Zeit verlieren«, sagte er. »Es gibt viel zu tun.«
Obgleich Toulacs Zwangslage bei Tage betrachtet nicht besser erschien, tat es gut, die Sonne zu sehen, trotz allem. Freilich wäre sie noch glücklicher gewesen, sie nicht mitten aus der Luft, sondern vom Boden aus zu sehen.
Myrial im Misthaufen!
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