Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
still. »Als ich dich in Seriemas Haus brachte, war es meine Absicht, dir jede Plage, jedes weitere Elend zu ersparen. Ich wollte für dich sorgen. Wie hätte ich ahnen können, was auf uns zukam? Du beschämst mich, Rochalla. Ich vergesse ständig, dass du noch so jung bist, weil du stets tüchtig erscheinst.« Er seufzte. »Ich habe immer ein verweichlichtes, behütetes Leben geführt, das sehe ich jetzt. Du hast schon so viel mehr durchgestanden als ich, und die volle Wahrheit ist, dass du viel besser gerüstet bist, um diese Katastrophe zu überleben.«
»Aber das ist keine Entschuldigung, um es nicht zu versuchen«, fiel ihm Rochalla ins Wort. Sie sah ein, dass etwas Wahres daran war, aber sie blieb ungeduldig gegenüber seiner rückgratlosen Art der Rechtfertigung. »Auch ich hatte ein ziemlich angenehmes Leben, bis meine Eltern starben. Danach hieß es Lernen oder Untergehen. Ich entschied mich für das Lernen, und das musst du auch. Ich war die Älteste in der Familie. Ich musste für die Jüngeren sorgen, weil niemand sonst übrig war. Du bist hier der Älteste, Presvel, wenn ich auch zugeben muss, dass wir in einer schlimmeren Lage sind, als ich je gewesen bin. Aber in gewisser Weise bist du besser dran als ich, denn du hast mich als Hilfe, und ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich habe noch nicht vor, den Löffel abzugeben, obwohl alles ziemlich düster aussieht, und ich werde auch dich nicht untergehen lassen. In der Stadt habe ich alles getan, was nötig war, um zu überleben. Du musst nun lernen, das Gleiche zu tun. Du kannst es, weißt du. Es ist erstaunlich, wozu ein Mensch fähig ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht.«
Presvel blickte sie von unten herauf an und lächelte dankbar. »Rochalla, du bist unglaublich. Weißt du das?« Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie wollte sich steif machen, ausweichen, wollte ausrufen: Du hast mir versprochen, das nie wieder von mir zu verlangen! Doch der Überlebenswille sagte ihr, dass dies nicht die rechte Zeit war, um irgendeinen Streit zwischen ihnen entstehen zu lassen. Die alte praktische Rochalla ermahnte sie, und in absehbarer Zukunft würden sie nur einander haben. Was konnte es außerdem schaden? Er würde es kaum sehr weit treiben können, da Annas im selben Raum schlief und leicht aufwachen könnte.
All das schoss ihr in einem Moment der Unschlüssigkeit durch den Kopf, und allen Versprechen zum Trotz, die sie sich selbst gegeben hatte, ließ sie sich entspannt in seine Umarmung sinken. Dabei fielen ihr ihre eigenen Worte ein wie ein spöttisches Echo: Es ist erstaunlich, wozu ein Mensch fähig ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht.
In der Basilika dachte Kaita gerade dasselbe. Zuerst sah es so aus, als würde es kein Ende nehmen, doch nach vielen langen Stunden hatte sie eine gewisse Ordnung unter die verletzten Tiarondianer gebracht. Die Quartiere der Priesterschaft, die in den Stockwerken unter den Hierarchengemächern lagen, waren für die schwer Verletzten zwangsweise geräumt worden. Dort arbeiteten bereits die anderen Heiler und die Schüler. Eine der kleineren Seitenkapellen war für jene vorbehalten, deren Verletzungen oberflächlich waren und die von ihren Familien und den geringeren Heilkundigen betreut werden konnten. Davon ausgenommen war eine Gruppe von Arzneikundigen und Kräutersammlern, die Kaita in die Zehnthöhlen geschickt hatte, um alles zu plündern, was zu gebrauchen war. Ihre alleinige Aufgabe war es, so viele einfache Arzneien wie nur möglich zusammenzubrauen. Den obere Wachraum benutzten sie, um fern von der Unruhe im Tempel zu arbeiten. Ahnungslos, dass zwei Frauen und ein Feuerdrache dort genächtigt hatten, fanden sie die warme Asche in der Feuerstelle und die klaffende Maueröffnung, wo einmal die Tür gewesen war, ziemlich rätselhaft, doch die Nöte der Verwundeten drängten so sehr, dass sie wenig Zeit hatten, Vermutungen über die Gründe anzustellen.
Im Laufe des Tages hatte Kaita die Hierarchin ein paarmal gesehen, die von einer Aufgabe zur anderen hastete, und einige Handwerker aus dem Heiligen Bezirk, die Essen, Wasser und Lampen einteilten, sich mit der schwierigen und unerfreulichen Beseitigung der Abfälle befassten und Zwischenwände mit Vorhängen sowie Strohlager bauten, um den weiten, hallenden Raum des Tempels für die Eingesperrten ein wenig behaglicher erscheinen zu lassen. Agella, die sich als erfinderisch erwies, schien an ebenso vielen Stellen gebraucht zu werden
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