Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Annas, die in ihrem Nest aus Decken und Kissen eingerollt lag wie ein Tier in seinem Bau. Ihr kleines rundes Gesicht war gerötet, und die Tränenspuren auf den schmutzigen Wangen glänzten noch. Sie hatten eine lange Sitzung mit Weinen und Wutausbrüchen hinter sich gebracht, während derer die Erwachsenen sie nicht nach draußen lassen wollten, um in der Überschwemmung nach ihrem Vater zu suchen. Annas war noch zu klein, um die tödliche Kraft einer solchen Wassermenge zu begreifen oder um die Gefahr zu erkennen, die von gleitendem Geröll, schlüpfrigem Boden, unvorhersehbaren Strömungen oder der Nähe eines Abgrunds ausgeht. Sie verstand nur, dass man durch Wasser, das einem Erwachsenen bis an die Oberschenkel reicht, durchaus waten konnte. »Und ich kann sehr gut schwimmen«, versicherte sie Rochalla mit anrührender Ernsthaftigkeit.
Sie brauchten eine Ewigkeit, um das wütende Kind zu beruhigen, und trotzdem wusste Rochalla, dass sie eigentlich wenig erfolgreich gewesen war. Am Ende hatte Annas bis zur völligen Erschöpfung gestritten, geschrien und geweint und war dann einfach eingeschlafen. »Zweifellos wird sie neue Kraft schöpfen und morgen von vorne anfangen«, sagte Rochalla müde zu sich selbst. »Und wie soll ich dann mit ihr fertig werden?«
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie laut gesprochen hatte, bis Presvel ihr antwortete. »Das kleine Ungeheuer über die Klippe zu werfen wäre eine Möglichkeit«, murmelte er grollend. »Mir klingen jetzt noch die Ohren.«
Rochalla, die unsicher auf dem unteren Bett balancierte, damit sie Annas Schlaf in dem oberen bewachen konnte, schaute böse zu dem Mann hinunter, der mit gekreuzten Beinen wie ein Schneider auf dem Tisch der Baracke saß. Sie wollte schon zu einer beißenden Erwiderung ansetzen, dann überlegte sie es sich anders.
Auch Presvel trauert. Er und die Dame Seriema haben sich über viele Jahre nahe gestanden, und ihr Tod schmerzt ihn mehr, als er zugeben möchte, sogar vor sich selbst.
»Weißt du«, begann sie vorsichtig, »Annas wird in den nächsten Tagen alle Freundlichkeit und Verständnis brauchen, die wir ihr geben können. Denn ich sehe keine Möglichkeit, wie Tormon die Überflutung überlebt haben soll.«
»Desgleichen Seriema. Das willst du doch sagen, nicht wahr? Von nun an sind wir auf uns selbst gestellt.«
Nach einem kurzen Blick auf Annas ließ Rochalla die obere Bettkante los und stieg vom Bett herunter in das anderthalb Fuß tiefe Wasser. Das Wachhaus lag ein wenig höher als die Umgebung, aber nicht hoch genug, um sie völlig verschont zu lassen. Als die Flut hereingebrochen war, hatten sie eine Stunde lang wie rasend das Notwendigste zusammengerafft: Essen, sauberes Wasser, Kleidung und Decken, Lampenöl, Pferdefutter und – im letzten Augenblick war es ihnen noch eingefallen – Anmach- und Feuerholz. Das hatten sie alles auf die oberen Betten geworfen, im Wettlauf mit dem Wasser, das unter der Tür hindurch drang und zusehends stieg.
Inzwischen war es dunkel geworden, und der Wasserstand begann zu sinken. Im flackernden Licht sah Rochalla zwei, drei Zoll oberhalb des Wassers die schmutzige Marke an der Wand. »Endlich geht es zurück.« Sie war froh, dass sie auf etwas anderes zu sprechen kommen konnte. »Vielleicht können wir in ein paar Stunden ein Feuer anzünden und die Sachen ein bisschen trocknen lassen.« Sie kletterte auf den langen Tisch, auf dem Seriemas Diener saß, lehnte sich über den Rand und wrang ihren Rocksaum aus.
Presvel blickte auf. Seine Augen waren matt und eingesunken. Jede Linie seiner Körperhaltung sprach von Ablehnung. »Und was dann?«, fauchte er. »Wenn das Wasser fort ist, was tun wir dann? Wohin wenden wir uns und wie? Wenn du glaubst, dass auch nur einer von uns beiden genug von Pferden versteht, um diese hünenhaften Biester zu reiten, dann bist du im Irrtum. Wir sind niemals weit aus der Stadt herausgekommen, wir wissen nicht …«
»Bei Myrials knirschenden Zähnen!« Rochalla war so zornig, dass nur das schlafende Kind sie davon abhielt, ihn anzuschreien. Stattdessen zischte sie ihn an. »Warum zum Teufel fragst du mich? Erwartest du von einer Frau, die nur halb so alt ist wie du, dass sie auf dich aufpasst wie auf ein Kind?« Sie bereute die Worte, sobald der Satz heraus war, aber sie konnte sie nicht zurücknehmen.
Presvel zuckte zurück, als sei er geschlagen worden, und sackte noch ein wenig mehr in sich zusammen. »Wahrscheinlich wollte ich es so haben«, antwortete er
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