Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
wie er sich in letzter Zeit benimmt, hat mich manchmal am Zustand seines Verstandes zweifeln lassen, und …«
Keuchend ergriff Seriema seinen Arm. »Tormon, wurde Presvel in der letzten Nacht von jemandem gesehen? Ich meine, seit Grimm ermordet wurde? Sag mir nicht, dass er auch vermisst wird.«
Tormon starrte sie mit offenem Mund an. »Du denkst doch nicht … du denkst doch nicht, dass er es war?«
»Was?« Seriema war bestürzt. »Nein, natürlich nicht. Von allen Männern, die ich kenne, neigt er am wenigsten zur Gewalt. Und Arcan hat gesagt, dass Grimm erstochen wurde – ich bin ganz sicher, dass Presvel bei einem Messer nicht weiß, wo vorne und hinten ist. Warum sollte er den alten Überbringer auch umbringen wollen? Er kennt ihn nicht einmal. Es muss einer der Rotten getan haben, der einen Groll gegen Grimm gehegt hat.«
»Vermutlich hast du Recht«, pflichtete der Händler zögernd bei. »Wenn man es so betrachtet, sieht es ganz unwahrscheinlich aus. Trotzdem meine ich, wir sollten ein Auge auf Presvel haben, sobald wir ihn einmal gefunden haben …«
»Papa, Papa, wir haben dir ein paar gute Sachen zu essen gebracht.« Annas platzte so unvermittelt ins Zimmer, dass Seriema zusammenschrak. Rochalla kam hinterher, beladen mit einem schweren Tablett. »Annas, du solltest anklopfen«, tadelte sie.
»Wozu denn«, fragte das Kind unbekümmert.
Rochalla reckte Arme und Schultern, als Tormon ihr das Tablett abgenommen hatte. »Habt ihr gerade davon gesprochen, Presvel zu suchen?«, fragte sie. »Verzeiht, aber es war nicht zu überhören. Ich habe ihn eben unten gesehen.« Sie runzelte die Stirn. »Er beharrt darauf, dass es ihm gut geht, wisst ihr, aber ich glaube ihm eigentlich nicht. Er schaut vollkommen elend aus.«
Seriema warf Tormon einen Blick zu. Auch er sagte darauf nichts, aber sie war sicher, dass sie beide dasselbe dachten.
Lieber Myrial, nein. Es kann nicht sein. Presvel ist immer ein guter Mensch gewesen. Er würde doch niemanden umbringen – oder?
Bestimmt wissen sie, dass ich es gewesen bin. Sie müssen es mir am Gesicht ansehen, an den Augen, an der Hand, in der ich das Messer hielt …
Für Presvel gab es keine Ruhe und kein Versteck. Keine Zuflucht vor der schrecklichen Tat, die er begangen hatte. Kein Entrinnen vor dem Entsetzlichen, das hinter jedem seiner Gedanken lauerte und immer und immer wieder die Erinnerung an Grimms Gesicht zurückbrachte, das von Schmerzen und Überraschung entstellt war, an den Ruck der Klinge, als sie in den Leib des Überbringers eindrang, an den warmen Blutschwall, der ihn überlief.
Doch trotz der abscheulichen Klarheit seiner Erinnerung hatte er Mühe zu glauben, was geschehen war. Ihn hatten immer schon lebhafte Albträume geplagt, wie jeden anderen auch, nicht wahr? Wenn doch nur das entsetzliche Bild von Grimms Tod auch ein solcher wäre.
Aber in seinem Innern wusste er, dass es sich anders verhielt.
Lieber Myrial, ich wollte ihn nicht töten! Ich würde alles geben, wenn ich die Zeit zurückdrehen und ungeschehen machen könnte, was ich getan habe!
Und was würde jetzt werden? Das Messer hatte er verloren, hatte er ins Stroh fallen lassen, als er vor Angst geflohen war. Er wagte es nicht, dahin zurückzukehren und es zu suchen – damit würde er sich nur verdächtig machen. Außerdem, welchen Zweck hätte es denn? Bestimmt hatten sie schon alles abgesucht. Sie hatten es längst gefunden. Inzwischen musste Arcan wissen, dass der Mörder zu Tormons Gruppe gehörte.
Wie lange noch, bis sie uns alle der Reihe nach befragen?
Bisher war es Presvel gelungen, sich unauffällig zu verhalten, mal hier, mal dort zu sein, damit keiner auf den Gedanken käme, dass er verdächtig umherschlich, hatte sich immer an Orten aufgehalten, die spärlich besetzt waren oder wo man zu beschäftigt war, um ihn besonders zu beachten. Schließlich war er auf das flache Dach des Turmes gelangt. Aber er wusste auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Kälte ihn wieder nach unten trieb. In der Zwischenzeit hatte er von oben beobachtet, wie Seriema mit Cetain und seinen Kriegern zurückkehrte. Sein Herz hatte einen Sprung getan, einen verrückten, wilden Augenblick lang hatte er daran gedacht, zu ihr zu laufen und alles zu gestehen. Sie würde ihn bestimmt beschützen, nicht wahr? Sie würde wissen, was zu tun war.
Dann befielen ihn Zweifel. Seine Dame hatte sich verändert. Sie hatte sich mit diesen unfeinen Rotten eingelassen, schien sich in Arcans
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