Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Amaurn die Augen öffnete, hatte sich der honiggelbe Sonnenschein des Sommertags in das braune Gold des Herbstes verwandelt. Aveole war nicht mehr da. Aber was war das? Er sah sie vom Wald her kommen, sie schritt durch das weiche Gras auf ihn zu. Er blinzelte und schüttelte den Kopf, benommen und verwirrt und unsicher, ob er träumte oder wach war. Dann kam ihm die bittere Erkenntnis, dass die glücklichen Zeiten längst vergangen und seine geliebte Aveole tot war. Die Gestalt jedoch kam weiter auf ihn zu und langsam sah er die lange Narbe an der Seite ihres Gesichts. Veldan. Natürlich. Er musste wahrhaftig müde sein, dass er sich so täuschte. Sie war viel früher als erwartet von der Küste zurückgekehrt.
Er begrüßte sie, erhielt aber keine Antwort, und plötzlich beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Wie war sie hierher gekommen? Woher hatte sie gewusst, wo er zu finden war? Warum blieb sie stumm, ihre Miene so unbewegt? Sie näherte sich gleichmäßig, war fast in Reichweite, und da begriff Amaurn, was verkehrt war, was sein Gespür ihm schon die ganze Zeit über hatte sagen wollen.
Die Narbe saß auf der falschen Seite.
Amaurn ergriff mit der falschen Hand das Schwert und war mit einer flinken Bewegung auf den Beinen, sein Arm holte schon aus, um den tödlichen Schlag zu versetzen, als ihn ein Gedanke erschlaffen ließ.
Bist du sicher?
Wenn er sich irrte, würde Veldan sterben. Es war zu spät, um den Schlag abzubrechen – sein ganzer Körper war schon im Schwung gespannt – aber dieser Augenblick des Zögerns kam ihn teuer zu stehen.
Veldan verschwand vor seinen Augen.
Das Schwert, seines Zieles beraubt, schnitt durch die Luft, ohne auf einen Widerstand zu treffen, und warf ihn aus dem Gleichgewicht. Noch während er sich zu fangen versuchte, packte etwas seine Fußgelenke, umschlang seine Beine, sodass er stolperte, sein Schwert losließ und der Länge nach ins Gras fiel, worauf ihm ein stechender Schmerz durch die Rippen fuhr. Amaurn blickte an sich hinunter und sah eine riesige grüne Schlange; ihr Leib, der dicker als der Arm eines Schwertkämpfers war, wickelte sich um seine Beine.
Ein Gestaltwandler! Wie sehr verfluchte Amaurn seine Sorglosigkeit, dass er allein hierher gekommen war, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging. Er hatte alle Wissenshüter, die fliegen konnten, fortgeschickt, um die Schleierwand zu überwachen, und bis ihn jemand zu Fuß erreichen konnte, würde es zu spät sein. Trotzdem … Amaurn hatte in jüngster Zeit ein, zwei Dinge dazugelernt, wie etwa nicht aus falschem Stolz auf Hilfe zu verzichten. Mit der ganzen Kraft seines Geistes schickte er das Bild seines Aufenthaltsortes an Maskulu samt der verzweifelten Bitte um Beistand.
Die Schlange hatte sich bereits drei- oder viermal um seine Beine gewickelt und arbeitete sich weiter hinauf, wobei sie ihn fester einschnürte. Sie sperrte das Maul auf und zischte, die langen gebogenen Zähne entblößend, und ihre drohenden Augen, die kalt und leer und schwarz wie Obsidian waren, wandten sich keinen Moment lang von ihm ab.
Würgeschlangen waren für gewöhnlich nicht giftig, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen. Er wagte keine auffällige Bewegung, während er im Gras nach dem Schwert tastete. Erleichtert spürte er das Heft in seine Hand gleiten. Er rollte sich herum – die Schlange stieß nach seinem Gesicht, aber da ging das Schwert schon auf sie nieder, in einem Enthauptungsschlag, der ganz lächerlich geriet. Wieder traf der pfeifende Stahl ins Leere. Der Druck um Amaurns Beine löste sich, und ein Habicht stieg aus dem Gras auf, flatterte durch die Zweige der Eiche und verschwand zwischen den Blättern.
Herzhaft fluchend kam Amaurn auf die Beine. Was nun? Wo war das verwünschte Geschöpf? Es konnte überall sein, wie sonstwas aussehen. In welcher Gestalt würde es als nächstes über ihn herfallen? Es dauerte nicht lange, bis er es erfuhr. Vom Rand des Waldes hörte er ein tiefes Knurren – es war laut, drohend und klang seltsam vertraut. Dort unter den Bäumen hervor kam der genaue Doppelgänger von Veldans Feuerdrachenfreund Kazairl.
Na prächtig!
Schon beim ersten Gedanken warf er sich zur Seite. Eine Flamme schoss aus dem Maul seines Angreifers heraus, verfehlte ihn knapp und brannte stattdessen ein großes schwarzes Loch in die Wiese. Als Amaurn sich herumrollte und wieder auf die Beine kam, arbeitete sein Verstand blitzartig. Es hätte keinen Zweck, den Takur in dieser Gestalt
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