Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
hiesigen Sagen war der Sitz der Weisheit unbesteigbar, aber in der großen unterirdischen Bibliothek von Gendival hatte der junge Amaurn ein altes Tagebuch entdeckt, das von Iskander, dem Gründer des Schattenbundes, stammte. Unter all den fesselnden Schilderungen, die für einen ehrgeizigen jungen Mann sehr nützliche Auskünfte enthielten, war auch die Beschreibung zweier geheimer Orte in Gendival, an die Iskander zu gehen pflegte, wenn er seine Gedanken sammeln, Pläne schmieden oder einfach nur allein sein wollte. Der eine war eine Höhle, versteckt zwischen den Felsen über dem oberen See. Amaurn hatte sie ein- oder zweimal besucht, sie aber kalt, eng und unerfreulich gefunden. Der andere Rückzugsort jedoch lag dicht unter dem Gipfel des großen Berges, der den Sitz des Schattenbundes überblickte, und lag so nahe, dass Amaurn sich oft wunderte, warum es scheinbar nie jemandem einfiel, dort hinaufzusteigen.
So viele Generationen von Wissenshütern, und nicht eine hat sich darum bemüht zu untersuchen, warum der Berg Sitz der Weisheit genannt wird! Nun, meine Vorgehensweise mag zweifelhaft sein, aber irgendjemand muss den Schattenbund aus seiner Selbstzufriedenheit herausreißen. Wir sollten lernend voranschreiten, anstatt in diesem beschaulichen Nest auf der Stelle zu treten und nichts weiter zu tun, als den Fortschritt anderer Reiche zu verhindern.
Der Aufstieg war keineswegs leicht, besonders für einen, der gebrochene Rippen und nur eine Hand zur Verfügung hatte, aber er war möglich – sofern man genau wusste, wohin man zu treten hatte. Amaurn kletterte stetig aufwärts, hackte dabei mit dem Schwert auf das Gestrüpp ein und schob sich durch Stechginster- und Brombeerdickichte. An den steileren Stellen suchte er sorgfältig nach Gesteinsfurchen, die Händen und Füßen beim Klettern Halt gaben, steckte das Schwert in die Scheide, um die gesunde Hand frei zu haben, und zog sich an den Ästen von Bäumen hinauf. Trotz der Schwierigkeit genoss er den Aufstieg. Nachdem er so lange ununterbrochen im Versammlungssaal gesessen hatte, umgeben von Berichten über Zerstörung und Tod, tat es gut, an die frische Luft zu kommen und eine Zeit lang seine Muskeln anstelle des müden Gehirns zu gebrauchen.
Die Felsen und die Baumstämme fühlten sich angenehm hart und fest an. Die Luft war kühl und brannte auf der Haut. Er roch die herbstliche Würze, die nach Bergquellen schmeckte und sich mit den Gerüchen des Waldes mischte, von denen einer belebender wirkte als der andere: der holzige Moschusgeruch des Erdreichs und das modernde Laub, der berauschende Duft der Farne und Moose an dunklen, feuchten Plätzen, der würzige Geruch der Stechginsterblüten, die in goldgelben Flecken an der Bergseite leuchteten.
Ein leichter Wind flüsterte in den Bäumen, die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und dem weniger lieblichen Gezänk der Drosseln, die in Scharen gekommen waren, um sich an den leuchtend roten Beeren der Ebereschen vollzufressen. Die großzügigen Gaben der Natur standen jetzt am Ende der Wachstumszeit für die kommenden kargen Wintermonate überall bereit. Die Pilze reckten haufenweise die hellen Köpfe aus dem Waldboden, an den Baumstämmen sprossen absonderliche Kolonien, von denen manche essbar, andere tödlich giftig waren. Die Brombeeren hingen in dichten Trauben und die Zweige der Haselsträucher bogen sich unter dem Gewicht der Nüsse. Amaurn spürte plötzlich, wie lange sein hastiges Frühstück zurücklag, und füllte sich beim Klettern die Taschen.
Schließlich erreichte der neue Archimandrit mit schmerzenden Gliedern und brennenden Kratzern auf der Haut sein Ziel. Nicht weit unterhalb des steilen Gipfels lag eine kleine abschüssige Wiese, ein überraschend ebenes, grünes Plateau, das sich aus dem schroffen Antlitz des Berges hervorstreckte. Genau in der Mitte stand eine ausladende Eiche von erlesener Gestalt, ein vollkommenes Beispiel ihrer Art. Es war ein zauberhafter Platz, hoch gelegen und abgeschieden, voll starker Klarheit und Frieden. Das ferne Gezwitscher aus dem Wald, das Flüstern des Windes im langen, saftigen Gras und im rotbraunen Eichenlaub waren alles, was man hier hörte.
Amaurn überquerte die Wiese, jeder Schritt auf dem federnden, grünen Teppich ohne Laut. Den Baum umgab eine zeitlose, heitere Ruhe, was für sein sorgenvolles Gemüt ein Trost war. Er näherte sich ehrfürchtig dem Stamm und legte eine Hand darauf, damit sich seine Aura mit der des alten Riesen verband,
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