Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
und spürte den Strom seiner Lebenskräfte prickelnd seinen eigenen Körper durchziehen.
Eine Weile stand er so versunken da, dann nahm er seufzend die Hand fort. Er fand die alte Stelle von damals wieder, wo zwei Wurzeln einen bequemen Rastplatz bildeten und von wo man den unteren See und das Dorf sehen konnte. Amaurn zog das Schwert aus der Scheide und legte die blanke Waffe griffbereit neben sich – eine Angewohnheit aus seiner Zeit als Hauptmann, die sich nicht so leicht abschütteln ließ, aber das wollte er ohnehin nicht. Er lehnte sich zurück und ließ den Frieden des Ortes über sich kommen, damit er seinen Verstand befreite, wie er es schon vor langer Zeit für den Gründer des Schattenbundes getan hatte.
Ich frage mich, wie viele Leute diesen magischen Ort seitdem gefunden haben. Nicht viele, könnte ich schwören. Ich habe keinen weiteren Bericht darüber finden können, aber das ist kaum verwunderlich. Jeder, der ihn findet, möchte ihn für sich allein haben, so wie ich. Aveole war die Einzige, der ich je davon erzählt habe, und wir haben uns geschworen, dass es unser Geheimnis bleibt.
Amaurn aß die Nüsse, Pilze und Beeren, die er beim Klettern gesammelt hatte, dann schob er alles Belastende entschieden beiseite und entspannte sich. Bald merkte er, dass ihm die Augen zufielen, und zufrieden ließ er es geschehen. Hier, in dieser friedfertigen Abgeschiedenheit konnte er sicher sein, dass ihn niemand störte. So dachte er jedenfalls.
So, so! Sieh an, Amaurn kennt diesen Platz.
Die Takur hatte ihn natürlich von jeher gekannt. Die Gestaltwandler, da an den Rand der Gendivaler Gemeinschaft verbannt, kannten jeden Fingerbreit Boden rings um die Siedlung. Vifang war dem aufrührerischen Emporkömmling gefolgt und hatte überrascht gemerkt, welches Ziel dieser Mensch ansteuerte, jedoch hätte er vom Standpunkt eines Meuchelmörders betrachtet kein besseres auswählen können. Amaurn würde, so erschöpft wie er war, nicht Acht geben und ein leichtes Opfer werden. Er wäre dort oben allein und fern von jeder Hilfe. Amaurn – und Vifang lachte grimmig in sich hinein – war sogar so freundlich gewesen, heimlich zu gehen. Hier oben würde ihn in absehbarer Zukunft niemand suchen. Es war unwahrscheinlich, dass die sterblichen Überreste dieses Narren je entdeckt würden. Wenn Syvilda und ihre Anhänger ein wenig nachhalfen und die entsprechenden Gerüchte ausstreuten, könnte der Schattenbund sogar zu dem Schluss kommen, dass der Abtrünnige, nachdem er aus Gründen der Rache die Saat des Unfriedens gesät hatte, erneut verschwunden war, wie er es schon damals getan hatte.
Man stelle sich vor, dass er sich an einen einsamen Ort wie diesen begibt und keinen Leibwächter mitnimmt oder irgendjemandem sagt, wohin er geht! Ein Mann, der so viele Feinde hat, muss verrückt sein, so unbedacht zu handeln.
Es hatte sich gelohnt, auf günstige Umstände zu warten. Es hätte gar nicht besser kommen können.
Der Mensch hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ihm jemand gefolgt war. Sich zu verbergen war für einen geübten Gestaltwandler ein Kinderspiel, besonders im Wald. Während sie den Berg erstiegen, verschmolz er mal mit dem einen, mal mit dem anderen Ding, wurde ein Vogel, ein Baumstumpf, ein Schatten im Gras. Jetzt stand da ein neuer Strauch am Rand der Wiese – eine Vogelbeere mit glänzenden dunklen Blättern, die vor dem Steilhang ganz unauffällig wirkte. Von diesem günstigen Punkt aus beobachtete die Takur den Archimandriten mit lebhafter Aufmerksamkeit und wartete darauf, dass er sich entspannte und schläfrig wurde. Welche Gestalt sollte sie für den Angriff wählen? Welche eignete sich am besten, um sein Opfer zu überrumpeln? Sowie Amaurn die Augen geschlossen hatte, sandte seine Mörderin einen vorsichtigen Gedanken in des Mannes schlafenden Verstand und fand die vollkommene Gestalt. In nur einem kurzen Augenblick war die Wandlung vollzogen.
Amaurn verlor sich in einem Traum von seiner Vergangenheit. Er war wieder jung, unschuldig und voll hehrer Anschauungen, frei von Schuld und Zweifeln. Er hatte Aveole auf das Plateau geführt, um ihr diesen magischen Ort zu zeigen, und sie saßen unter dem großen Baum in der warmen Sommersonne. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und sie lehnte sich an ihn, während sie die müßige Unterhaltung von Verliebten führten und über das weit unten liegende Tal schauten.
Plötzlich schien der Traum zu flimmern und blasser zu werden, und als
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