Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Freunde in Mitleidenschaft gezogen. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihr vorschnelles Handeln ernsthafte Auswirkungen, nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere haben konnte.
Eine Zeit lang verlor sich Aliana in einem Abgrund von Schuld und Selbstanklage, der finsterer war als ihre Umgebung. Aber gerade die Finsternis, die all den Schmerz in ihr hatte aufsteigen lassen, war es am Ende, die sie aus dem Abgrund befreite. Denn in dem schwarzen Nichts fiel es ihr zunehmend schwerer, sich auf einen klaren Gedanken zu konzentrieren, ganz zu schweigen von solchen, die ihr Qualen bereiteten. Wahllos schossen ihr Bilder durch den Kopf, zerstoben und bildeten sich neu wie leuchtende Fischschwärme. Einige entsprangen ihrer Fantasie, aber da gab es auch welche, die ihr unverständlich waren. Wieder andere entstammten der Erinnerung, und sie sah sogar das Gesicht ihres toten Vaters, dessen Züge ihr lange entfallen gewesen waren, weil die Zeit das Andenken an die Kindheit verdunkelt hatte.
Dann entstand plötzlich ein Bild, das deutlicher als die übrigen war und nicht wieder verschwand: eine Frau mit dunklen Haaren, in denen einige silberne Strähnen glänzten. Sie trug ein Kleid in einem lebhaften Blau, die klugen blauen Augen passten in das gebieterische Gesicht. Sie streckte Aliana die Hand entgegen. »Komm«, befahl sie. »Folge mir.«
Ohne zu wissen wie, schwebte Aliana auf die Frau zu, die sich darauf umdrehte und vor ihr her ging, während die Diebin wie ein Drachen an der Schnur hinterhertrieb. Die Dunkelheit wurde von blendendem Licht zerteilt, und Aliana fiel. Es gab einen Stoß, der ihr durch alle Knochen fuhr, und sie fand sich auf Händen und Knien wieder, auf einem Kieselstrand an einem ultramarinblauen Meer. Ihr Vater hatte sie einmal an die Küste mitgenommen, als sie noch sehr klein war, darum hatte sie dunkle Erinnerungen an die See, aber dort war es nicht annähernd so schön gewesen. Sie hörte die Wellen rauschend auf den Strand rollen und Vögel zwitschern, Insekten summten und in einem Gehölz flüsterte der Wind. Die Sonne brannte auf ihrer Haut, und sie schmeckte die salzige Luft, es roch nach Blumen, sonnenwarmen Kräutern und Erde. Nach diesem schrecklichen schwarzen Nichts waren ihre Sinne überwältigt.
Und wo sie nun aus dem finsteren Gefängnis befreit war, begann sie heftig zu zittern. Sie biss sich auf die Lippe gegen den übermächtigen Drang zu weinen, aber trotz bester Absichten flossen ihr die Tränen übers Gesicht. Dort im Sand, wo sie kniete, weinte sie ihre Erleichterung heraus.
»Also wenn das kein Prachtweib ist! Da gibt es überhaupt nichts zu heulen, du alberne Kuh.« Die Stimme kam von hinten.
»Packrat!« Aliana fuhr herum, sprang dabei auf und riss gleichzeitig, in einem würdelosen Gerangel der Glieder, ihren Freund in eine Umarmung. »Ich dachte, ich hätte dich umgebracht«, sagte sie leise. »Ich glaubte, wir wären tot.«
Packrat machte sich los und blickte sie wütend an. »Falls wir das nicht sind, so haben wir es nicht dir zu verdanken. Beim nächsten Mal, wenn ich sage, wir kehren um, kehren wir um – und wenn ich dich bewusstlos schlagen und den ganzen Weg am Kragen ziehen muss.«
»Beim nächsten Mal möchte ich, dass du mich bewusstlos schlägst, bevor ich auch nur losgelaufen bin«, antwortete Aliana reumütig.
»Wird mir ein Vergnügen sein.« Packrat schenkte ihr sein Zahnlückengrinsen. »Falls du jetzt damit fertig bist, die alberne Göre zu spielen: da drüben steht eine Frau. Sie sagt, sie will mit dir reden.«
Aliana blickte auf und sah zum ersten Mal, was es außer dem Strand noch gab. Ein paar Stufen führten eine steile Böschung hinauf zu einer weißen Marmorterrasse und einem Haus aus dem gleichen Stein, das in der Mitte eines schönen Gartens stand. Am Rand der Terrasse an die Brüstung gelehnt stand jene große dunkelhaarige Frau, deren Kleid die gleiche blendende Farbe wie das Meer hatte. Aliana erkannte ihre Führerin aus der Dunkelheit. Ein Stückchen über ihr war eine seltsame Störung in der Luft zu sehen, ein eigentümliches Flimmern und Funkeln, das da zu sein schien und doch wieder nicht. Ein genaueres Hinsehen brachte Aliana nur Kopfschmerzen und ließ ihr die Augen tränen, sodass sie rasch fortblickte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der fremden Frau zu, die wieder vorausging und ihr zurief: »Kommt und folgt mir. Wir müssen miteinander reden.«
Der Befehlston ließ Ungehorsam gar nicht erst aufkommen. Sich dicht
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