Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Seufzern ließen sich Rochalla und Annas niedersinken, wo sie standen, ohne sich um den nasskalten Boden zu scheren. Presvel, nicht willens, ähnliche Schwäche zu zeigen, blieb gegen die Felswand gelehnt stehen und schaute auf die düstere Landschaft in der Tiefe. Plötzlich fuhr er auf und stieß einen grässlichen Fluch aus. Im Tal, wo sich der Weg wie ein abgespultes Band zwischen den Hügeln wand, konnte man ein paar winzige Flecke sehen, die sich bewegten. Es waren mehr als erwartet. Offenbar waren die Rotten entschlossen, den Mann zu fangen, der ihren Überbringer getötet hatte.
Seine schmerzenden Muskeln missachtend schritt er auf Annas und Rochalla zu und riss sie unsanft auf die Füße. »Weiter«, schnauzte er. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Ab in den Tunnel!«
Rochalla erhaschte gerade noch einen Blick auf die fernen Reiter, bevor er sie in den Tunnel zerrte. Ihr Herz machte einen Sprung, und zum ersten Mal, seit Presvel sie entführt hatte, begann sie aufrichtig zu hoffen. Sie hätte Annas nur zu gern gesagt, dass ihr Vater endlich kam, aber sie entschied, dass es noch zu früh sei, um bei dem Kind Hoffnungen zu wecken.
Erst als sie völlige Dunkelheit umgab, entzündete Presvel die Lampe, die er aus dem verlassenen Bauernhaus mitgenommen hatte. Die Dunkelheit sprang zurück und ließ auf dem glitschigen Fels ihre Schatten tanzen. Rochalla dachte an die Schrecken der Flutwelle und schauderte. Tormon, Scall und Seriema waren hier unten vom Wasser eingeschlossen gewesen und nur knapp dem Tod entronnen. Tormon hatte ihr hinterher erklärt, dass so eine plötzliche Überschwemmung von dem Wetter hoch oben im Gebirge herrührte – und dass hier unten niemand wissen könne, was da oben zwischen den Gipfeln geschah. Folglich konnte ohne Vorwarnung jeden Augenblick eine neue Flut herabstürzen und sie und Annas ertränken. Mit einem Mal überstieg die Furcht ihre Erschöpfung, und sie wollte den Weg noch dringender hinter sich lassen als ihr Peiniger. Seufzend hob sie Annas in die Arme und fand noch einen Rest Kraft, den zu besitzen sie niemals vermutet hätte. »Komm«, sagte sie zu dem verblüfften Presvel. »Beeilen wir uns.«
Sie brauchten einige Zeit, um den Eingang zu Scalls geheimnisvollen Gängen zu finden. Der behauene Fels war sehr uneben und die Lampe warf trügerische Schatten, sodass sie die Öffnung in der Decke übersahen und weiter liefen, bis das Tageslicht am anderen Ende des Tunnels sie überraschte. Rochalla wollte in Tränen ausbrechen, als sie das sah. Ihr tat der Rücken weh, die Arme brachen ihr fast durch und ihre Beine fühlten sich tonnenschwer an. So ließ sie ihren Gefühlen anhand einiger Ausdrücke freien Lauf, die sie auf den Straßen Tiaronds gelernt hatte, ungeachtet der zwei Kinderohren. Der sprachlose Presvel begriff endlich, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, und ließ sich herab, ihr das Kind aus den Armen zu nehmen, ehe sie umkehrten. Und bei alldem erwartete Rochalla in jedem Augenblick hinter sich das Tosen der Flut zu hören und unerbittlich von den Füßen gerissen und fortgeschwemmt zu werden.
Diesmal hielten sie aufmerksamer Ausschau, nicht nur nach der Öffnung selbst, sondern auch nach der Querstrebe unter der Decke, an der Scall sich festgehalten hatte. Abwärts hatten sie einen günstigeren Blickwinkel auf die Decke und so entdeckten sie beides ganz leicht. »Endlich«, sagte Presvel, setzte Annas ab und reckte sich erleichtert.
Rochalla, deren Geduldsfaden kurz vor dem Zerreißen stand, war ebenso dankbar, den Fluchtweg aus diesem schrecklichen Tunnel gefunden zu haben. Dann aber besann sie sich und dachte an die Verfolger. Wie sollten sie herausfinden, welchen Weg sie und Annas genommen hatten? Sie könnten vermuten, dass Presvel in die Stadt zurück wollte. Und wenn ihnen die Öffnung in der Decke nun ebenfalls gar nicht auffiele? Sie könnten sie auch ganz vergessen haben und einfach hinauf nach Tiarond reiten!
Presvel hob Annas auf. »Schau«, sagte er zu der Kleinen, »ich werde dich dort hinaufheben, und du kletterst in den Gang, einverstanden? Wenn du angekommen bist, warte auf uns und rühr dich nicht vom Fleck. Wenn ich hinaufgeklettert bin und sehe, dass du weggelaufen bist, werde ich Rochalla töten, und das wird dann allein deine Schuld sein – verstehst du das?«
Rochalla sah das kleine Gesicht totenblass werden und sie wusste, dass Annas vor Augen stand, wie ihre Mutter in der Zitadelle von einem Soldaten umgebracht worden
Weitere Kostenlose Bücher