Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
unsicher machten, und ganz gleich, wie verzweifelt die Lage war, niemand wollte sich der Gefahr aussetzen, von Klauen und Zähnen zerrissen zu werden – noch nicht jedenfalls. In der Zwischenzeit konnten die Heiler nichts anderes tun, als die Gesunden von den Kranken und denen, die sich um sie kümmerten, einigermaßen zu trennen und im Übrigen auf ein Wunder zu hoffen.
Die Stimmung der Flüchtlinge, die kaum noch tiefer sinken konnte, war schwer mitanzusehen. Die Überlebenden von Tiarond, noch niedergeschmettert von dem Gemetzel, das sie in den Schutz des Tempels getrieben hatte, wankten nun unter einem neuen bösen Schlag, der ihre Zufluchtsstätte so gefährlich machte wie die Stadt draußen. Gilarra war sicher, dass viele Leute nicht mehr gegen die Krankheit ankämpften. Weil ihnen das Leben in ihrer Drangsal unerträglich geworden war, hatten sie einfach beschlossen aufzugeben und zu sterben. Telimon war seinem Zwillingsbruder rasch gefolgt, und Agellas Nichte Felyss, die außer ihrer Tante die gesamte Familie verloren hatte, wäre ebenfalls gestorben, hätte sie nicht kürzlich eine Freundschaft mit Gelina, der einstigen Diebin, geknüpft, von der sie nun mit solcher Hingabe und Entschlossenheit gepflegt wurde, dass sie wahrscheinlich durchkommen würde. Solche guten Nachrichten gab es jedoch wenige. Stallmeister Fergist hatte nicht so viel Glück gehabt, und Agella bekämpfte ihre Trauer, indem sie ihre Zeit und Kraft den Heilern zur Verfügung stellte und half, wo immer es verlangt wurde.
Die Hierarchin war verzweifelt. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, bis die Krankheit durch den Tempel gefegt war, und die Menschen starben schnell, oft innerhalb weniger Stunden, nachdem die ersten Anzeichen aufgetreten waren. Kaita meinte, es läge daran, dass sie ihre Körperflüssigkeit zu rasch verloren, aber Gilarra war sicher, dass der wahre Grund über das alltägliche und nüchterne Denken hinausging. Ihr schien es, als habe Myrial den Fluch nach dem Ende von Zavahls Herrschaft nicht von seinem Volk genommen, sondern ihn auf ihre Zeit ausgedehnt. Zuerst die fliegenden Dämonen und jetzt das. Wo blieb die Gerechtigkeit?
Auf der Suche nach jemandem, dem sie die Schuld zuschieben konnte, fiel der Blick leicht auf Aliana. Wenn die verfluchte Diebin nur nicht mit dem Ring auf und davon wäre, dann wäre alles anders gekommen!
Wäre wirklich alles anders gekommen?
Gilarra begann darüber nachzudenken. Es hatte wirklich den Anschein, als habe die Gottheit sich von Callisiora abgewandt und sei entschlossen, mit dem Land und allen seinen Bewohnern ein Ende zu machen. Der stärkste Beweis, dass Myrial sie verlassen hatte, war der Tod der beiden Kinder, die zum Hierarchen und zum Suffragan bestimmt gewesen waren. Dergleichen war in der Geschichte des Tempels noch nie geschehen. War das ein Zeichen? Sie sah nicht, wie es etwas anderes sein könnte. Was immer aus den Callisioranern werden würde, ob es Überlebende geben würde oder nicht, es schien, dass die Hierarchen ihren Gott enttäuscht hatten, und nun war ihre Herrschaft zu Ende.
Gilarra hatte wenig mehr tun können, als die Sterbenden zu trösten, und die, die sie pflegten. Unterdessen war immer deutlicher zu spüren, dass das Volk sein Vertrauen in Myrial verlor – und in seinen menschlichen Stellvertreter. Plötzlich war auch ihre eigene Zukunft sehr unsicher geworden. Wieder und wieder drängte sich Versagen und Schicksal des vorigen Hierarchen in ihre Gedanken.
Hatte Zavahl genauso empfanden? Die gleiche Enttäuschung? Diese Hilflosigkeit? Die Furcht?
Und jedesmal versuchte sie die Erkenntnis wegzudrängen, dass sie den Weg ihres Vorgängers gehen würde. Den Weg zur Opferung.
Bis vor kurzem war es ihr gelungen, diesen grausamen Gedanken von sich fern zu halten. Aber nun war das nicht mehr möglich. Vor einer Stunde war sie hinter dem Leichnam ihres Lebensgefährten und ihres kleinen Sohnes hergegangen. Obwohl sie alles unternommen hatte, um ihre kleine Familie von den Quellen der Ansteckung fern zu halten, in dem überfüllten Tempelbau hatte es nichts genützt. Nachdem die Krankheit sie erst einmal in den Klauen hielt, hatte Gilarra sie mit keiner Macht und mit keinem noch so inbrünstigen Gebet in der Welt halten können.
Hierarchin hin oder her, Gilarra hatte geweint und geschrien wie die Ärmsten der Tiarondianer, als ihre Liebsten – einer so herzergreifend klein – in den Abgrund geworfen wurden, um vor ihren Augen zu verschwinden. Auf dem
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