Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Lichtwand über den Horizont bis in den Himmel und versetzte ihn in Ehrfurcht. Selbst durch den dichten Schneeregen leuchtete sie hell, und er scheute vor der schieren Unermesslichkeit zurück. Das unnatürliche, gleißende Flimmern, das die Landschaft meilenweit beleuchtete, machte ihn unruhig, und das tiefe Surren ging ihm durch Mark und Bein. Der Wind trug einen Geruch heran, wie er ihn von schweren Gewittern kannte, und er spürte ein unangenehmes Prickeln auf der Haut wie von tausend Insekten.
Nach einiger Zeit verlangsamte Kalt den Trab, und er schien zu zögern, spähte um sich, als suchte er nach einem Erkennungszeichen. Wieder fragte sich Scall, wohin er gebracht werden würde. Ein furchtbarer Gedanke dämmerte in ihm herauf. War der Überbringer vor Trauer über den Tod seines Meisters wahnsinnig geworden? Hatte eine vorübergehende Trübung des Verstandes ihn bei diesem Sturm in die Heide ziehen lassen? Scall hatte schon von solchen Dingen gehört, doch wusste er nie, ob an den Geschichten etwas Wahres war.
Wenn er nicht den Verstand verloren hat, dann weiß ich nicht, was der Trottel im Sinn hat. Hier draußen ist überhaupt nichts, und wenn wir nicht bald Unterschlupf finden, werden wir ganz sicher umkommen.
Endlich schien Kalt zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Er wandte sich von ihrem bisherigen Weg ab und folgte der Biegung am Fuß eines steilen Hangs. Plötzlich befand sich die leuchtende Wand unmittelbar vor ihnen, und Scall spürte umso stärker das Surren und das unbehagliche Prickeln. Sie waren in einem engen Tal mit steilen Grashängen und hohen Kämmen zu beiden Seiten. Etliche kleine Bäche, an denen vereinzelt Stechginster und Dornbüsche standen, entsprangen hier und da den Hängen und flossen ins Tal, aber er konnte sich kaum solchen Einzelheiten widmen. Sein Verstand zitterte vor dem Anblick der Schleierwand und weigerte sich zu glauben, dass gerade sie das Ziel sein könnte. Hatte der Überbringer etwa beschlossen, sein Leben zu beenden, indem er in die Schleierwand ritt? Was würde mit einem geschehen, der geradewegs in diese Wand grauenhafter Kräfte hineinritt? Würde er die Erfahrung überleben? Scall zweifelte sehr daran. Kalt jedoch schien andere Vorstellungen zu haben. Mit dem Ziel unmittelbar voraus, beschleunigte er ein wenig den Trab und zog seinen widerstrebenden Gefangenen auf dessen ebenso widerstrebenden Pferd hinter sich her.
Plötzlich wurde das Kreischen, das Scall bisher dem Wind zugeschrieben hatte, lauter – so laut, dass es das Surren der Schleierwand übertönte –, und er erkannte die schrillen, misstönenden Stimmen, die seine dunkelsten Albträume bevölkerten, seit er die Stadt verlassen hatte. Die fliegenden Ungeheuer von Tiarond nahten, und hier saß er eingepfercht in diesem Flaschenhals von einem Tal wie eine Ratte in der Falle.
Sein Mund wurde trocken. Eine übermächtige Angst ließ sein Herz in der Brust donnern. Verzweifelt versuchte er, sich zu bewegen, zu sprechen, Kalt vor der Gefahr zu warnen, aber der Einfluss des Überbringers war vollkommen. Er konnte nichts tun, als hilflos im Sattel zu sitzen und zu warten, dass der Tod aus dem Himmel herabstieß. Aber Scall war nicht der Einzige, der sich erinnerte. Ohne Vorwarnung brauste die Braune im Galopp davon, fort von der Bedrohung und hin zur Schleierwand.
Kalt war vollkommen überrascht. Den ganzen Weg über hatte die Stute an ihrem Strick gezerrt, sodass er sich schon daran gewöhnt hatte. Jetzt schoss sie in die entgegengesetzte Richtung davon und riss ihn beinahe aus dem Sattel. Um sich zu retten, ließ er die Leine fahren, und die Stute rannte, einmal befreit, noch schneller. Ihre Panik wirkte ansteckend. Die anderen Pferde drehten sich im Kreis und schlugen aus, wodurch Kalt seine ganze geistige Kraft darauf richten musste, die verängstigten Tiere im Zaum zu halten.
Scall spürte, wie der eiserne Griff, der seinen Willen unterjocht hatte, plötzlich erschlaffte und er die Herrschaft über seinen Körper wiedergewann. Nach und nach gelang es ihm auch, die durchgegangene Stute zu zügeln – eine Anstrengung, die durch ihre Erschöpfung erleichtert wurde, sowie durch den Umstand, dass sie vor der gleißenden Wand ebenso viel Angst hatte wie vor den Scheusalen hinter ihr. Scall war darin ganz ihrer Meinung. Er würde sich dieser Wand keinesfalls nähern – nicht wenn er es verhindern konnte! Indem er ihren Kopf herumzog, brachte er sie wieder auf den Weg, den sie gekommen waren, und
Weitere Kostenlose Bücher