Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
schnell er es mit seinen steif gefrorenen Händen vermochte, fesselte er das schreckliche Wesen und band es auf den Rücken von Grimms Pferd. Das dauerte länger, als er dachte, besonders da die Möglichkeit, dass dessen Mitbrüder aus dem Sturm herbeigeflogen kämen, ihm beständig zusetzte. Immer wieder wich er vor dem widerlichen Gestank und vor der fettig und unsauber anmutenden Berührung der grauen, groben Haut zurück oder fürchtete, das Wesen würde plötzlich zu Bewusstsein kommen, ehe es ganz gefesselt war. Das Pferd war nicht weniger beeindruckt, und es brauchte kostbare Zeit und die ganze Willenskraft des Überbringers, ehe es sich beruhigte und seine Last widerstrebend aufnahm.
Bis sie so weit waren, war Kalt beinahe verrückt geworden. Das Heulen des Sturms nahm erneut zu und damit seine innere Unruhe. Endlich war alles fertig, und mit einem Seufzer der Erleichterung bestieg er sein Reittier und führte den eigentümlichen kleinen Reiterzug auf die Schleierwand zu.
Je näher er kam, desto schlimmer wurde das Kribbeln auf der Haut, und das war ein weiterer Grund für ihn, sich zu beeilen. Er wusste, dass die Pferde es nicht lange in der Nähe einer so unangenehmen Erscheinung aushielten. Er schloss die Augen, um Grimms letzte geflüsterte Anweisung besser ausführen zu können, und streckte seinen Geist nach der Lichtwand aus, mit dem Ziel, zu dem geheimnisvollen Verstand in ihrem Innern – sofern man es so nennen konnte – irgendwie hindurchzudringen. Es war noch schwieriger, als selbst er es sich vorgestellt hatte. Grimm hatte ihn darauf vorbereitet, dass dies kein menschlicher Geist war, mit dem er sich zu verbinden hatte, sondern etwas Unermessliches und vollkommen Fremdes. »Ich kann es dir nicht erklären«, hatte er gesagt, »aber wenn du es erlebst, wirst du es begreifen.«
Schön, Grimm, das hilft mir sehr.
Kalt kniff die Augen fest zu und strengte sich noch mehr an – dann mit einem Mal hatte er es geschafft. Er spürte ein eigentümliches Verschmelzen seines Geistes, eine Verschränkung mit etwas Anderem. Nicht mit einem menschlichen Bewusstsein, wie er es bei seinen Gefechten mit Scall oder bei dem kleinen Knaben vorgefunden hatte, dessen Hinscheiden er kürzlich herbeiführte. Noch war es ein weiser Verstand, wie er ihn bei Grimm gespürt hatte, wenn sie ihre Gedanken untereinander austauschten. Das hier war mehr eine geistige Kraft, und zwar eine so unermessliche, dass sie alle Vorstellung überstieg. Einen Schwindel erregenden Augenblick lang verschmolz er mit einer ganzen Welt – einer Welt, von der er bisher nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Sein Lehrer hatte ihm gesagt, es gebe andere Reiche jenseits der Schleierwand, und er hatte geglaubt, zu begreifen, aber jetzt war er überwältigt von der ungeheuren Größe, der verwirrenden Vielschichtigkeit, der Schönheit, der Schrecklichkeit und dem reinen Zauber seiner ersten Begegnung mit der Welt Myrial.
Das Summen der Schleierwand veränderte sich in Lautstärke und Tonhöhe, und am Rande seines Bewusstseins merkte Kalt, dass sie sich geteilt hatte, um ihn durchzulassen. Er holte tief Luft und ritt hindurch, und während er das tat, spürte er, wie die Geisteskraft ihn mit einem reißenden Knall verließ. Als sich die Öffnung hinter ihm zu schließen begann, sank er, von der Berührung mit dem Wesen einer ganzen Welt vollkommen aufgezehrt, auf den Hals seines Pferdes.
Es waren die durchdringenden Schreie, die ihn warnten. Kalt fuhr in die Höhe, und heiße Angst fegte die Erschöpfung mit einem Schlag hinweg. Ein, zwei, drei schwarz geflügelte Gestalten kamen durch die kleiner werdende Öffnung gesaust. Eine vierte kam zu spät, und er hörte ihre Schmerzensschreie, als die Wand sich um sie schloss. Den Tod ihres Kameraden nicht beachtend, gingen die anderen mit ausgestreckten Krallen auf Kalt los, und aus ihren Augen leuchtete dämonisches Feuer. Es gab keinen Ort, an den er fliehen konnte, und kein Mittel, sie zu besiegen.
Mit mir ist es aus!
Zugleich mit diesem jammervollen Gedanken entsann er sich, was Grimm an dem Tag getan hatte, als der Vater des kleinen Rottenjungen sie angegriffen hatte. Indem er seinen ganzen Willen zusammennahm, schuf er um sich eine Wand, einen Kraftschild, der ihn, seinen Gefangenen und die Pferde einschloss wie eine Kuppel aus erstarrter Luft. Als die Scheusale gegen das durchsichtige Hindernis prallten, zuckte Kalt zurück, aber irgendwie hielt er seine Willenskraft beisammen,
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