Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
sie lange brauchen, um uns zu finden.« Dann brach seine Ruhe zusammen. »Das ist alles deine Schuld!« Mit einem Aufheulen griff Scall den Überbringer an, während dieser aufzustehen versuchte, und trat ihn und bearbeitete ihn mit den Fäusten. »Warum?«, schrie er. »Warum hast du das getan, du blöder Dummkopf? Begreifst du nicht, dass du uns beide damit umbringst?«
Obwohl der Junge zu erschöpft und zu durchgefroren und steif war, um mit seinen Schlägen viel anzurichten, verhinderte er immerhin, dass Kalt sich so weit sammeln konnte, um Scalls Geist wieder seinen Willen aufzuzwingen. »Halt! Scall, hör auf damit!«, rief er, während er sich verteidigte und gleichzeitig versuchte, auf die Beine zu gelangen.
Unvermittelt riss Scall aus und rannte zu seinem Pferd, das er an einen Dornbusch am Rand eines nahen Dickichts angebunden hatte.
»Verflucht!« Endlich konnte Kalt vom Boden aufstehen. Er gab sich gar nicht erst die Mühe, seinem fliehenden Gefährten nachzusetzen, sondern zwang dessen Körper unter seine Herrschaft.
Scall kämpfte dagegen an, aber ohne Erfolg. Der kurze, heftige Kampf geschah in völliger Stille, aber Kalt spürte die Gegenwehr und konnte den Jungen innerlich schreien hören. Jeder Schrei zerriss ihm das Herz. Aber er wusste auch, dass er keine andere Wahl hatte. Auf keinen Fall würde der Junge freiwillig durch die Schleierwand gehen, und nach seinen Worten zu urteilen, nahten bereits mehr von diesen stinkenden Wesen.
Den beiden Rottenponys, durch ihre Haltestricke noch miteinander verbunden, war es in ihrer Furcht gelungen, sich ein Stück bachabwärts in einem Dornenstrauch zu verheddern. Kalt hielt Scall fest in seiner Gewalt, während er sich beeilte, die durchgegangenen Tiere zurückzuholen, und schließlich hatte er es geschafft, dass er und sein Gefangener sich wieder sicher auf dem Rücken eines Pferdes befanden. Diesmal jedoch ließ er Scall nicht reiten, sondern er hatte das Seil aus seinem Gepäck dazu benutzt, den Jungen quer über den Sattel zu fesseln. Er würde seine ganze Aufmerksamkeit benötigen, um den Weg durch die Schleierwand zu finden, und durfte keine darauf verschwenden, die Gewalt über den Gefangenen zu behalten.
Kalt war reisefertig, als sein Blick auf das Wesen fiel, das unweit von ihm am Boden lag. Es war am Leben, aber bewusstlos, man konnte das rasche Steigen und Senken der Brust beim Atmen sehen. Er zwang sich, seinen Abscheu zu überwinden und es genau anzusehen – freilich aus sicherem Abstand. Dabei kam ihm ein Gedanke, und in der Erinnerung hörte er die Stimme seines Lehrers.
»Wann immer du einen Widersacher zu haben glaubst, bedenke, dass du hinter das Offensichtliche schauen musst, denn der wahre Feind ist die Unwissenheit.«
Das war Grimms Lieblingslehrsatz gewesen, und er hatte ihn oft wiederholt. Jetzt fragte sich sein Schüler, ob der Schattenbund je die Gelegenheit gehabt hatte, diese schrecklichen Räuber anhand eines lebenden Beispiels zu untersuchen. Er bezweifelte es. Sie dürften nicht allzu leicht zu fangen sein. Es war nur ein glücklicher Zufall gewesen, dass dieser allein geflogen kam und dass Scall mit dem Stein gekommen war. Bestimmt wären doch die Erkenntnisse, die man von diesem einzelnen gewinnen konnte, unschätzbar wertvoll, um ein Mittel zu entdecken, mit dem seine Mitbrüder zu vernichten wären. Kalt betrachtete den drahtigen Körperbau, der für Schnelligkeit und Kraft geschaffen war, und die bösartigen Fänge und Klauen und erlebte einen Augenblick des Zweifels. Würde der Schattenbund für solch eine Gabe wirklich dankbar sein? Oder würden sie ihn dafür bestrafen, dass er diese tödliche Bedrohung mitten unter sie brachte? Er konnte es nicht einschätzen. Ihm blieb nichts als der Mut seiner eigenen Überzeugung, und in seinem Innersten wusste er, dass es das Richtige wäre, diese Scheusale eingehend zu untersuchen.
»Wenn man dahin gelangt ist, seinen Feind zu begreifen, stellt man häufig fest, dass er eigentlich gar kein Feind ist.«
Wieder schossen ihm Grimms Worte durch den Kopf. Er blickte auf die Furcht erregenden, natürlichen Waffen seines Widersachers, erwog dessen Fähigkeit, von der Luft aus zuzuschlagen, bedachte den Blick der mitleidlosen roten Augen und bezweifelte in dem Moment, dass Grimm auch in diesem Punkte Recht hatte – aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden, und dabei hatte er keine Zeit zu verlieren.
Es war gut, dass Grimm darauf bestanden hatte, viel Seil mitzunehmen. So
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