Der Schattenesser
Gesicht. Mit irrem Blick sprach er auf Michal ein, rüttelte zugleich an seiner Schulter.
»Hex schon auf dem Weg hierher. Kann hören. Hühnerschritte spüren. Nicht schlimm, das mit Frau und Kind. Gar nicht schlimm.«
Michal versuchte, einen Arm zu bewegen. Es fiel erstaunlich leicht. Seine Hand tastete nach seinem Gesicht und griff in etwas, das sich anfühlte wie eingedickter Grießbrei. Seine Wangen, feucht und heiß und fettge schwollen . M s ei Trift sei ner Zunge über die Lippen f uhr , erkannte er sie nicht wieder. Riesige, formlose Wülste. Schmerzen bei jeder Regung, jeder Berührung. Das Blickfeld seiner Augen war so schmal, als blinzelte er, aber er bekam die Lider auch mit Mühe nicht weiter auseinander. Er sah Zdenek durch einen hellroten Schleier, undeutlich, fast verwischt.
»Hab' gesagt: Nicht gehen! Bei Zdenek bleiben, weil sicher hier. Soldaten überall. Aber Mann, Frau, Kind nicht hören. Einfach gehen.«
»Nadja«, stieß Michal mühsam hervor.
»Gar nicht schlimm«, versuchte der Alte ihn zu beruhigen. »Nicht schlimm, was passiert. Frieden jetzt. Wie Zdeneks Frau und Tochter.«
Michal begriff nicht gleich, was die Worte des Alten bedeuten mußten. Er fühlte harten Grund unter seinem Rücken. Er lag wohl noch vor dem Haus am Boden.
»Nadja«, stöhnte er noch einmal.
Über ihm war grauer Himmel. Er spürte den Regen nur, wenn Tropfen in seine Augen fielen. Seine Haut dagegen war unempfindlich. Die Schmerzen am ganzen Körper betäubten jedes andere Gefühl.
In seinem Kopf aber tobten die Gedanken. Was war mit Nadjeschda und Modja geschehen? Das letzte, was er gesehen hatte, war Nadjeschda am Boden, ein Haufen bewaffneter Kerle über ihr. Sie zogen und rissen an ihr, an ihrem Kleid, den Ärmeln, ihrem Haar.
Michal schrie. Schrie, so laut er nur konnte.
»Ruhig«, beschwichtigte ihn der Papiermacher eindringlich. »Müssen ruhig sein. Soldaten immer noch in der Nähe. Irgendwo im Wald. Nicht weit. Müssen ganz ruhig sein, sonst kommen wieder.«
Warum war er noch am Leben? Wenn er selbst nicht tot war, dann mußten auch Nadjeschda und die Kleine noch leben. Weshalb hätten sie ihnen Schlimmeres antun sollen als ihm selbst?
Er sah wieder vor sich, wie die Soldaten Modja aus dem Arm ihrer Mutter rissen, ein hilfloses, strampelndes Bündel. Wie sie sie fortwarfen, einfach zur Seite, irgendwo zu Boden.
»Gar nicht schlimm«, sagte Zdenek erneut, und zum erstenmal drangen die Worte wirklich bis zu Michal.
Nicht schlimm? Was war nicht schlimm?
Kraftlos rollte er sich auf die Seite. Sein ganzer Leib schmerzte höllisch. Er achtete nicht darauf. Sein trüber Blick streifte über den Vorplatz des Hauses. Vor dem dunklen Umriß des Scheiterhaufens lag etwas Helles. Es war ziemlich groß, von unregelmäßiger Form.
Ein Körper. Nackt. Reglos.
»Nadjeschda!«
Er wußte, daß sie es war, ohne daß er sie wirklich erkannte.
Er versuchte, in ihre Richtung zu kriechen, flach auf dem Bauch. Seine Hände krallten sich in den Boden, seine Fingernägel brachen. Unendlich langsam schob er sich vorwärts.
»Nicht schlimm, nicht schlimm!« hörte er Zdenek hinter sich faseln. Der Alte machte keine Anstalten, ihm bei seinem Weg zu helfen. Michal mußte es alleine schaffen.
Eine Ewigkeit später war er bei ihr. Ganz nahe. Seine blutigen Finger tasteten über ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Haar war ganz feucht und verklebt. Sie hatten ihr den Schädel eingeschlagen.
Er legte sich neben sie, zog die Knie an wie ein kleines Kind, hielt ihre Hand, sprach mit ihr, betete, sie möge leben, wußte aber, sie war tot, hoffte trotzdem, flüsterte, weinte, bettelte und flehte, wollte sterben und konnte es doch nicht.
Später fragte er Zdenek, weshalb er noch am Leben war. Warum hatten sie Nadjeschda und Modja getötet, ihn selbst aber geschont?
Der Alte stand hinter seinem Tisch und schnitt ein Gerippe aus einem Papierbogen. Michal lag in Decken gehüllt vor dem Kaminfeuer. Er konnte aufstehen, sogar gehen, aber er wollte es nicht. Er glaubte, wenn er liegenblieb , würde er einschlafen, hoffentlich für immer.
»Hatten hier im Haus ihr Lager aufgeschlagen, die Soldaten«, sagte Zdenek, ohne von seinem Papierbogen aufzusehen. Wenn er schwieg, stach seine Zungenspitze rosa zwischen den Lippen hervor. Er sprach kaum, wenn er an einem seiner Skelette arbeitete. Michal störte ihn selten dabei.
Es war sein vierter Tag im Haus des Papiermachers. Die Schwellungen gingen schneller zurück als
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