Der Schattenesser
erwartet, seine Schwäche aber blieb. Jeder Schritt bereitete ihm starke Schmerzen. Der Alte flößte ihm mehrmals am Tag übelriechende Säfte ein. Vielleicht halfen sie, vielleicht nicht. Es war ihm gleichgültig. Michal hatte mitseinem Dasein abgeschlossen. Sein Körper mochte sicherholen, aber sein Geist blieb leblos. Er verspürte kein Gefühl mehr, das über körperliche Pein hinausging. Keine Trauer, keinen Haß. Als hätte er all das abgelegt wie ein Paar alter Stiefel und zöge es vor, fortan barfuß zu gehen.
Er stellte die Frage nach seinem Überleben nicht zum ersten Mal. Zdeneks Antwort war immer dieselbe: Die Soldaten hätten hier im Haus gelagert. Danach schwieg er.
Heute aber glaubte Michal zum erstenmal, den Sinnhinter den Worten des Alten zu verstehen. Und erstmals seit vier Tagen war da wieder eine Empfindung in seinem Schädel, erst Unglauben, dann Fassungslosigkeit.
»Du warst auf ihrer Seite?« fragte er ungläubig und schlug seine Decken zurück. »Du hast gewußt, daß sie hier waren?«
Zdenek sah ihn nicht an, führte weiter die Klinge über das Papier. »Habe gesagt, gehen nicht raus. Gesagt, Soldaten überall. Aber Mann und Frau nicht hören, was Zdenek ihnen sagt. Wollte helfen, aber machtlos gegen eisernen Willen. Nicht mal Messer hat geholfen. Konnte doch nicht zugeben, daß Soldaten hier im Haus. Hättet schlecht über Zdenek denken können, wo sie doch Zdeneks Frau und Kind verbrannt.«
Michal richtete seinen Oberkörper auf, zog die Beine an.
»Habe versucht zu verhandeln mit Soldaten«, fuhr der Alte fort. »Habe gesagt, laßt sie am Leben. Da war Kind von Mann und Frau schon tot: Hat nicht mehr geschrien, gar nicht mehr. Frau aber geschrien, immer weiter. Soldaten Dinge mit ihr getan. Zdenek gesagt: Laßt Frau in Ruhe. Aber Frau geschrien, immer lauter. Da haben Soldaten zugeschlagen, fest, auf ihren Kopf. Danach nicht mehr geschrien. Zdenek sagt: Laßt Mann am Leben. Soldaten sagen: Warum? Zdenek sagt: Mann kann Zdenek helfen, bei Knochenfrauen und bei allem. Soldaten lachen, sagen, ist egal, ob Mann stirbt oder lebt. Sagen, lassen ihn einfach liegen und ziehen weiter nach Prag. Brauchen Zdenek nicht mehr. Glaubten, Zdenek sei verrückt, deshalb harmlos. Haben viel gelacht über Zdenek, viel Spaß gehabt. Deshalb Zdenek nicht tot. Deshalb Mann nicht tot.«
Michal stemmte sich auf die Beine. Er trug immer noch dieselbe blut- und schmutzverschmierte Kleidung. Der Stoff war hart und verkrustet.
»Du hast uns in dein Haus geholt, obwohl du wußtest, daß die Soldaten im Schuppen schliefen?« fragte er leise. »So war es doch, oder?«
»Wollte nur helfen«, erwiderte Zdenek. »Wollte Wärme, wollte Essen geben. Mann, Frau, Kind hier im Haus sicherer als in Wäldern, weil hier keiner sucht. Schon alles ausgeplündert, jedes Versteck durchwühlt. Deshalb keine Gefahr. Gefahr nur draußen und in Wäldern. Deshalb gewarnt: Nicht hinausgehen, hierbleiben. Warten, bis Baba Jaga kommt und Soldaten bestraft.«
Michal stieß mit dem Ellbogen gegen ein Papiergerippe. Es wehte zur Seite, brachte weitere in Aufruhr. Einen Augenblick später war der ganze Raum von Bewegungerfüllt. Überall wellten sich Skelette und winkten mit flatternden Händen.
»Sieh nur, sieh doch nur!« rief Zdenek aus und lachte fröhlich. »Alle leben, alle aufgewacht. Lustig, was?«
»Ja, lustig«, sagte Michal. Er griff nach einem der Papiermesser und stieß es dem Alten in den Hals.
Zdeneks Lachen erstarb. Trauer verdunkelte seinen Blick, nicht Schmerz. Er röchelte, sein Oberkörper fiel nach vorn. Ein roter Stern spritzte unter ihm über den Papierbogen. Dann sackte der alte Mann zu Boden, zuckte, krampfte, starb.
Michal schleppte sich aus dem Haus ins Freie. Es war später Abend, draußen tobte ein Herbststurm. Michal ließ die Tür offenstehen. Der Wind erweckte die Gerippe zum Leben, sie trieben zitternd in die Nacht hinaus. Wenige Augenblicke später war er umwirbelt von Dutzenden der weißen Gestalten. Sie feierten einen grotesken Geisterball, eine lautlose Walpurgisnacht.
Die Leichen lagen immer noch dort, wo die Soldaten sie hatten liegen lassen. Michal zog Nadjeschda zwischen die verkohlten Reste des Scheiterhaufens, schmiegte Modja in ihre kalte Umarmung. Die Tage im Freien hatten Spuren hinterlassen.
Schließlich entfachte er die Glut des Scheiterhaufens erneut, speiste die Flammen mit Papiergerippen, bis auch die Holzreste Feuer fingen.
Die Lohen leckten immer höher in den schwarzen Himmel,
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