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Der Schattenesser

Der Schattenesser

Titel: Der Schattenesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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in seine Richtung. Er sah es mit Genugtuung und tat plötzlich etwas, das ihre größten Bedenken zerstreute: Er zog unter seinem Umhang, beinahe wie ein Jahrmarktsmagier, eine schwarze Kapuze hervor. Die einzigen Öffnungen waren zwei Augenschlitze.
    »Hier, das müßt Ihr aufsetzen, mein Fräulein«, sagte er.
    Mußte sie ihr Gesicht nicht zeigen? Konnte Cassius verwegenes Vorhaben doch noch gelingen? Ein Verdacht dämmerte in ihr herauf: Hatte der alte Alchimist gar gewußt, was auf sie zukam? Wußte er um dieses Theater, um die Versammlung, sogar um die Kapuze? Mit einem mal war sie sicher, daß er ihr etwas verschwiegen hatte. Aber ihr blieb keine Zeit mehr, zornig zu sein.
    Nur eines hielt sie noch davon ab, sofort nach der Kapuze zu greifen: Was, wenn die echte Anwärterin plötzlich auftauchte? Spätestens dann würde der Schwindelaufgedeckt.
    Sarai faßte sich ein Herz. Diese Gefahr mußte sie eingehen. Sie redete sich ein, daß sie ohnehin nichts zu verlieren hatte. Dabei wußte sie genau, daß das Unsinn war. Selbst ein Leben im Elend der Prager Gassen war besser als der Tod.
    Eilig überwand sie die letzten Schritte bis zu Nadel-tanz. Aus der Nähe wirkte sein Gesicht noch zerfurchter, noch älter.
    Sie ergriff die Kapuze und zog sie über. Ihr ganzer Kopf, sogar die Schultern verschwanden darunter. Ihr Blickfeld war durch die schmalen Schlitze stark beengt, und sogleich überkam sie Panik. Aber es war zu spät, um sich jetzt noch zurückzuziehen.
    Das Kleid! durchfuhr es sie plötzlich. Großer Gott, sicher würde man sie am Kleid erkennen!
    Nein, unmöglich. Die Frauen, die sie auf dem Hradschin gesehen hatten, konnten nicht so schnell hierhergelangt sein. Sie hätten umgehend aufbrechen müssen.
    Unsicher, aber mit betont festen Schritten ging Sarai voran durch das Tor. Nadeltanz folgte ihr und schloß die beiden Flügel. Sie hörte, wie ein Riegel knirschte. Dann trat er an ihr vorüber und führte sie.
    »Alle warten auf Euch«, sagte er noch einmal, als sei das eine ganz besondere Ehre.
    »Ich weiß«, erwiderte sie knapp und wußte doch in Wahrheit nicht das geringste. Unter der Kapuze klang ihre Stimme merkwürdig dumpf, beinahe fremd, dafür aber um so lauter. Auch ihr Atem dröhnte ungewohnt und sehr viel hastiger als sonst. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Feuchte Rinnsale liefen in ihren Nacken , zwischen ihre Brüste.
    Nadeltanz führte sie durch einen niedrigen Gang, an dessen Wänden alte Dekorationen lehnten: flache Wälder, auf Holzplatten gemalt und ausgesägt, ebensolche Häuser, Schlösser und Berge. Sie alle waren verstaubt und wurden offenbar seit Jahren nicht mehr benutzt.
    »Überbleibsel jener, die diese Räume vor mir nutzten« sagte der Spielmeister. »Ich brauche derlei Gaukelwerk nicht. Die Welt meines Spiels ist ein schwarzer Vorhang, nicht mehr. Alles andere ist dem Vorstoß ins Reich der Ursachen nur hinderlich.«
    Sarai verstand nicht, was er meinte. Reich der Ursachen
    - das hatte einen eigenartigen Klang. Hatte Cassius nicht einmal etwas Ähnliches erwähnt? Sie war nicht sicher. Falls er wirklich davon gesprochen hatte, so wußte sie nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Aber sie wagte nicht , Nadeltanz danach zu fragen, aus Furcht, sie könnte sich durch ihre Unwissenheit verraten.
    Der Gang endete vor einer Tür. Diese führte in einen großen Vorraum, dessen Rückwand ein prachtvolles Portal schmückte - zumindest wirkte es von weitem so. Aus der Nähe entdeckte Sarai, daß die Goldfarbe von den aufwendigen Umrahmungen blätterte. Risse zogen sich durch die Verzierungen rund um das zweiflügelige Tor.
    Nadeltanz drückte gegen die rechte Seite des Portals und hielt sie für Sarai geöffnet. Mit der Kapuze auf dem Kopf trat sie hindurch. Ihre begrenzte Sicht erschwerte es ihr, die Umgebung vollständig wahrzunehmen.
    Was sie auf den ersten Blick sah, war ein Zuschauerraum, sehr dunkel, nicht allzu groß, mit vierzig oderfünfzig Sitzen bestückt. Am anderen Ende des Saales befand sich eine kleine Bühne, etwa auf Kopfhöhe des Publikums. Die Stühle waren fast alle belegt. Die meisten Menschen starrten angespannt auf den leeren schwarzen Vorhang im Hintergrund der Bühne. Rechts und links davon brannten zwei Kerzenleuchter auf hohen Sockeln, die beiden einzigen Lichtquellen im Saal.
    Köpfe wandten sich nach Sarai um, als sie eintrat. Ein Raunen ging durch die Reihen.
    Alle Anwesenden trugen schwarze Kapuzen. Viele von ihnen waren Frauen. Hühnerfedern waren

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