Der Schattenesser
weitere Menschen ihre Schatten verloren, ohne daß irgendwer sie warnen konnte, ließ sie schaudern. Aber es hatte keinen Sinn, sich mit solchen Vorstellungen zu martern. Sie konnte ohnehin nichts daran ändern.
Sarai lehnte sich gegen einen der Laboratoriumstische. Nachdenklich blickte sie auf ihre zitternden Hände und auf den Schatten, den sie warfen. Auf der anderen Seite der Kammer loderten die Flammen in der Feuerstelle und fauchten zum Kaminschacht empor. Ihr zuckender Schein verlieh den Schatten ein geisterhaftes Eigenleben, ließ sie mal hierhin, mal dorthin fallen. Sarai legte ihre rechte Hand auf ihren Oberschenkel, so daß Finger und Schatten sich berührten. Natürlich fühlte sie nichts als den Stoff ihrer Hose. Und doch wurde ihr bewußt, daß ihr Schatten mehr war als nur ein unvollkommenes Spiegelbild, das sie achtlos mit sich durchs Leben zog. Etwas existierte darin. Sie wünschte sich, es sehen, es anfassen zu können, doch so oft sie auch danach tasten mochte, sie würde immer nur ins Leere greifen. Sie hoffte inständig, daß es wirklich wert war, dafür zu kämpfen. Doch zugleich übermannte sie die Erinnerung an ihren Vater. Er hatte nicht gekämpft. Sie hatte gesehen, was mit ihm geschehen war.
Cassius blickte immer noch zum Fenster hinaus und war tief in Gedanken versunken.
»Was Josef über die gefallenen Engel gesagt hat, daß sie in unsere Schatten fahren, was hältst du davon?« fragte sie.
Der Mystiker drehte sich langsam um. »Der Golem besitzt das Wissen des Rabbi Löw, und es gibt keinen zweiten Weisen wie ihn. Wenn seine Schöpfung auch nur einen Teil seines Geistes geerbt hat, dann glaube ich ihr jedes Wort.«
»Was bedeutet es für einen Menschen, wenn ein gefallener Engel in seinen Schatten fährt?«
Cassius seufzte und ließ sich seinerseits wieder im Sessel nieder. »Falls wirklich einer der Gefallenen in deinen Schatten gefahren ist, Sarai - und dessen bin ich keineswegs sicher, denn der mal'ak Jahve mag es nur vermuten -, so kannst du selbst herausfinden, ob er dir schadet. Hast du in den vergangenen Tagen etwas Ungewöhnliches gespürt?«
»Du meinst, außer der Tatsache, daß ich fast von Söldnern geschändet, von Dächern gefallen und von einem verrückten Engel geblendet worden wäre?« fragte sie mit beißendem Spott.
Cassius nickte gütig. »Außer diesen Kleinigkeiten.«
Sie warf ihm einen mörderischen Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, ansonsten geht es mir hervorragend - abgesehen von zwei Dutzend Prellungen, ebenso vielen Kratzwunden und mehr Splittern in meinen Fingern, als ich zählen könnte. Meine ganze Haut fühlt sich an, als säße ich in einem Bienenstock.«
»Das hält die Sinne wach. Keinen Ärger mit deinem Schatten?«
Sie atmete tief durch. »Nein.«
»Weshalb machst du dir dann Sorgen, mein Kind? Engel - ob gefallen oder nicht - existieren für gewöhnlich auf einer anderen Ebene als der unseren, selbst, wenn sie sich mitten unter uns befinden. Um ehrlich zu sein, ich bezweifle, daß es für dich oder jeden anderen einen Unterschied macht, welche Art von Engel in deinen Schatten fährt, ob Schutzengel oder Gefallener. Ihre Belange sind nicht die unseren.«
»Das habe ich auf dem Dach der Synagoge bemerkt«, entgegnete sie trotzig.
Cassius seufzte. »Der mal'ak Jahve gibt sich nicht damit zufrieden, die Gefallenen auf ihrer eigenen Ebene zu schlagen, und das ist sein Fehler. Stell dir einen Baum vor, in dessen Krone ein Adler sitzt. Ein Jäger, der ihn erlegen will, versucht für gewöhnlich, mit einem Pfeil darauf zu schießen. Unser Jäger aber greift statt dessen zur Axt und fällt den Baum - und wundert sich, daß der Adler derweil davonfliegt. Deshalb fällt er den nächsten Baum und den nächsten, in der Hoffnung, irgendwann einen zu erwischen, auf dem der Adler sitzen bleibt. Dann, und nur dann, kann er seine Beute fangen. Aberich halte es für fraglich, ob ihm das je gelingen wird.«
»Der Jäger, der so vorgeht, wird irgendwann den ganzen Wald abholzen.«
»Allerdings.«
Sarai musterte ihn eindringlich. »Du glaubst also, der mal'ak Jahve kann bei seiner Jagd auf die Gefallenen garkeinen Erfolg haben?«
»Ich halte es für unwahrscheinlich. Und ich glaube, er selbst weiß das ganz genau. Er ist verzweifelt. Er beginnt, ziellos um sich zu schlagen. Er hofft, die richtigen Schatten zu vernichten, aber er ist nicht sicher. Sein Angriff auf dich beweist daher keineswegs, daß wirklich ein Gefallener in deinen
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