Der Schattengaenger
gespürt und mit den Tränen gekämpft. Das Schuldgefühl klebte hartnäckig an ihr. So bald würde sie es wohl nicht wieder loswerden.
Und jetzt schlief alles und Imke fühlte sich hellwach. Deshalb hatte sie beschlossen, noch ein bisschen zu arbeiten. Sie war tagsüber kaum dazu gekommen, und eigentlich liebte sie es über alles, am Schreibtisch zu sitzen, während die Nacht vor den Fenstern stand.
Sie fuhr den Computer hoch und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Schreiben und Tee, das gehörte für sie zusammen wie Schnee und Stille oder Wüste und Sand. Es war schon eigenartig, welche Rituale sich mit den Jahren herausschälten und wie wichtig sie wurden.
Bevor sie den Text aufrief, der sie gerade beschäftigte, wollte sie nachschauen, ob E-Mails da waren. Eine einzige wartete darauf, abgeholt zu werden. Die Mehrzahl der Spams würde erst am frühen Morgen eintrudeln.
Als Absender war LitBib angegeben. Literatur und Bibliothek? Literarisches für Bibliophile? Von der Literatur zur Bibliomanie? Unter Betreff las Imke »Interview« und öffnete die Mail arglos und ohne zu zögern.
Ich gehe in deinem Schatten - höre die Dinge deinen Namen flüstern - und lächle ihnen zu. Spürst du meinen Atem - nah - an deinem Ohr - hörst du meine Sehnsucht - in deinem Herzen? So lerne denn meinen Namen kennen: Der Schattengänger.
Imke zuckte zurück, als wäre eine Vogelspinne aus der schwarzen Tastatur hervorgekrochen. Sie hörte sich keuchen und hielt sich die Hand vor den Mund.
Er nannte ihr seinen Namen.
Der Schattengänger.
Und er tat das auf eine Weise, als wäre er der wiederauferstandene Jesus. So lerne denn meinen Namen kennen.
Imke fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie saß wieder in der Kirche, früh am Sonntagmorgen, fröstelnd vor Müdigkeit, die Rückenlehne der engen Holzbank hart und unnachgiebig im Kreuz, und hörte dem Pfarrer zu.
So lerne denn meinen Namen kennen.
Bibelworte. Fern und unwirklich. Geschichten aus uralter Zeit.
Voller Panik zog Imke den Cursor auf Löschen, doch dann überlegte sie es sich anders. Gleich nach dem Frühstück würde sie den Kommissar anrufen. Dies hier war ein weiteres Steinchen für das Mosaik, das schließlich ein Bild ihres Verfolgers zeigen würde. Jedes Detail konnte wichtig sein.
Mit spitzen Fingern speicherte sie die Mail und wäre doch am liebsten aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet. Nein, befahl sie sich selbst, den Gefallen tust du ihm nicht. Du bewahrst die Ruhe. Du fängst nicht an zu hyperventilieren. Das hätte er gern, aber das wird er nicht kriegen, nicht von dir.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich halbwegs beruhigt und den Kopf wieder frei hatte für andere Gedanken. Ruhe war eine Grundvoraussetzung für das Schreiben. In aufgewühltem Zustand konnte sie ein paar Notizen hinkritzeln, mehr jedoch nicht.
Die wenigsten Menschen wussten, wie viel Disziplin und Fleiß für einen Roman nötig waren, wie unspektakulär monatelange Schreibvorgänge sein konnten und wie weit entfernt von so großen Begriffen wie Inspiration oder Besessenheit. Jeden Morgen an den Schreibtisch, Tag für Tag, nicht anders als eine Sachbearbeiterin in irgendeinem Amt. Fünf, sechs Seiten, oft weniger, und wenn es gut lief, ganz selten, auch mal mehr.
Ganz allmählich, während draußen die Jahreszeiten wechselten, entstand die Geschichte, sozusagen aus sich selbst heraus, Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe, Wort für Wort.
Nach dem letzten Punkt hinter dem letzten Satz erhob Imke sich jedes Mal mit einem Stöhnen. Und jedes Mal hatte sie den Eindruck, das vergangene Jahr damit zugebracht zu haben, durch eine dunkle Höhle zu kriechen, weiter und weiter, immer auf die Richtung zu, in der sie Licht vermutete. Dann tat ihr der Rücken weh, ihre Augen tränten, und in ihrem Kopf war eine Leere, von der sie glaubte, sie nie wieder füllen zu können.
Tatsächlich brauchte sie von Jahr zu Jahr länger, um nach einem abgeschlossenen Buch wieder aufzutanken und Energie zu speichern, und ein Erlebnis wie dieses hier brachte ihr mühsam aufgebautes Gleichgewicht gefährlich ins Wanken.
Sie tippte einen Absatz und schaute nachdenklich auf. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe. Sie zog eine Grimasse, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Ihr fiel auf, dass sie zwar wach, aber dennoch todmüde war, ein Zustand, der ihre Gedanken taumeln ließ.
Es war heiß. Die Sonne war ein gleißender Fleck am dunkelblauen Himmel. Das
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