Der Schattengaenger
gegeben - Mina durfte ihre Therapie auf keinen Fall unterbrechen, vor allem nicht jetzt, wo sie sichtbare Fortschritte machte. »Mich dürft ihr gern einplanen«, hatte er uns angeboten, »allerdings muss ich euch darauf hinweisen, dass ich zwei linke Hände habe.«
Meine Großmutter hatte versprochen, eventuell anfallende Näharbeiten zu erledigen (»Gardinen, Vorhänge, Sitzkissen, alles kein Problem«). Claudio wollte beim Tapezieren und Streichen helfen (»Sizilianisches Weiß und Gelb, voller Sonne, wie bei uns zu Hause«). Unter Merles Tierschützern fanden sich die verschiedensten Handwerker, auf deren Hilfe wir bei Bedarf zurückkommen konnten (Elektriker, Fliesenleger, Installateur). Und Luke hatte behauptet, er habe einen grünen Daumen und sei kräftig und zäh und würde uns gern bei der Anlage des Gartens unterstützen und bei allem andern sowieso.
Das Einzige, was uns fehlte, war Zeit. Bis zum Sommer waren Merle und ich ans Tierheim und ans St. Marien gebunden, danach war die Zukunft an der Reihe. Studium? Lehre? Wir hatten uns beide noch nicht entschieden, wie es weitergehen sollte.
Gleich nach der Schlüsselübergabe hatte Merle eine Handvoll Sonnenblumenkerne im Garten verbuddelt. »Stell dir vor, wie sie leuchten werden«, hatte sie geschwärmt. »Lauter kleine, nickende Sonnen.«
Vielleicht wäre ein bisschen Systematik sinnvoller gewesen, aber Sonnenblumen waren ein guter Anfang. Als Nächstes hatte sie ein paar Sträucher gepflanzt, kniehohe, noch kahle Bündel von Stängeln, die sie bei hobbygärtnernden Tierheimmitarbeitern abgestaubt hatte.
Tilo und ich hatten angefangen, ein wenig Ordnung zu schaffen. Was in den Zimmern herumgelegen hatte, hatten wir in die Scheune verfrachtet. Dort störte es keinen und konnte erst einmal liegen bleiben. Tilo war wiederhergestellt. Ich begriff immer noch nicht, wie es passieren konnte, dass meine Mutter ihn für einen Einbrecher gehalten hatte.
»Das ist die offizielle Version«, hatte Merle gefrotzelt. »Vielleicht hat er einfach zu tief ins Glas geguckt und ist die Treppe runtergesegelt.«
Ausgerechnet Tilo. Er trank gern mal ein Glas Wein, aber ich hatte ihn noch nie betrunken erlebt. Trotzdem. Irgendwas an der Geschichte war faul. Jedes Mal wenn ich mich mit Tilo unterhielt, hatte ich den Eindruck, er weiche meinem Blick aus. Etwas stimmte ganz und gar nicht, doch ich bekam nicht heraus, was es war.
»Einen Penny für Ihre Gedanken, mein Kind.«
Ich fühlte das Lächeln, mit dem Frau Sternberg mich ansah, wie eine Liebkosung auf dem Gesicht. »Wir ziehen bald um«, vertraute ich ihr an. »In einen alten Bauernhof. Und jetzt gibt es jede Menge zu überlegen.«
»Darf ich ihn sehen, wenn alles fertig ist?«
Es würde ein großes Fest geben, das hatten Merle und ich uns vorgenommen, eines mit Lampions und Windlichtern und Musik. »Aber ja! Dann lernen Sie auch meine Freunde kennen.«
»Wie schön!« Ihr Blick verlor sich. Irgendwohin. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns mit den Arbeiten beeilen mussten, wenn Frau Sternberg unseren Bauernhof noch sehen sollte. Ich schaute ihr nach, wie sie langsam und unsicher über den Flur ging, und schloss für einen Moment die Augen, um nicht zu heulen.
»Ich werde für eine Weile wegfahren«, sagte sie.
Bert spürte zweierlei: Erleichterung, weil Imke Thalheim dann in Sicherheit wäre, wenigstens für kurze Zeit, und Enttäuschung, weil sie sich damit auch ihm entzog.
»Lesereise?«, fragte er.
»Nein. Ich werde für meinen neuen Roman recherchieren. Das hatte ich ohnehin geplant und im Augenblick kommt es mir sehr gelegen.«
Ihren Worten war es nicht anzuhören, doch Bert spürte, wie nervös sie war. Sie hatte Angst und wollte sich verkriechen. Das war ihr gutes Recht, und er würde ihr nicht vorhalten, dass das der falsche Weg war. Möglicherweise war es ja sogar der richtige, wer konnte das mit Sicherheit entscheiden?
Sie schwiegen beide. Bert wünschte sich, das Telefon wäre in der Lage, auch Gedanken zu transportieren.
»Ich habe gelesen, man dürfe in einer Lage wie meiner auf keinen Fall seinen Alltag verändern«, sagte sie schließlich. »Und dass man kein Geheimnis aus den … Belästigungen machen soll, im Gegenteil. Damit würde man die Situation bloß verschlimmern. Jeder, der sich im Internet über Stalking austauscht, weiß irgendeinen nützlichen Ratschlag beizusteuern, aber soll ich Ihnen etwas verraten? Ich habe keine Lust, mich zum Opfer machen zu lassen. Ich will mich
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