Der Schattengaenger
Instinkt, brachte ihm der Anblick eines Fotos, das Lesen eines Satzes eine Assoziation, die der erste Schritt in die richtige Richtung sein konnte.
Die meisten Stalker stammten aus dem direkten Umfeld ihres Opfers. Ehemalige Ehepartner, abgewiesene Verehrer, nicht beachtete Arbeitskollegen, nette, hilfsbereite Nachbarn und beste Freunde. Oft waren sie der Polizei bekannt, doch solange sie keine direkte Gewalt ausübten, konnte man ihnen das Handwerk nicht legen. Man konnte sie nur beobachten.
Anonyme Stalker allerdings nicht. Sofern der Täter keine Fehler machte, war es so gut wie unmöglich, ihm auf die Spur zu kommen, erst recht, wenn es sich bei dem Opfer um eine prominente Person handelte, deren Umfeld nicht eingrenzbar war.
Bert hatte gelesen, dass inzwischen drei Viertel aller Prominenten von dem Phänomen Stalking betroffen waren. Eine wahnsinnig hohe Zahl. Viele Prominente erduldeten Belästigungen bis zu einem gewissen Grad und betrachteten sie einfach als Schattenseite ihres Berufs, die sie hinzunehmen hatten.
»Wer in der Öffentlichkeit steht«, hatte eine große Schauspielerin in einem Interview gesagt, »der kann nicht nur die Früchte des Erfolgs genießen. Er muss sich auch den negativen Begleiterscheinungen stellen.«
Ihre Sichtweise hatte Bert imponiert. Das Interview war ein paar Jahre alt. Damals hatte Stalking noch nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Heute dagegen schon. Manchmal gab es auch erfreuliche Entwicklungen in Berts Beruf. Diese gehörte dazu.
Normalerweise fing Bert mit seinen Ermittlungen im engeren Umfeld des Opfers an. In Imke Thalheims Fall gab es kein engeres Umfeld. Der Freundeskreis ging nahtlos in den Kreis derer über, mit denen die Schriftstellerin über ihre Arbeit verbunden war.
»Das kann man nicht trennen«, hatte sie ihm erklärt. »Ich bin mit Lektoren, Journalisten und Schauspielern befreundet, mit meiner Agentin, mehreren Politikern, Buchhändlern und Veranstaltern. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, sind über die ganze Welt verstreut.«
Ein seltsames Leben, dachte Bert, und ein beneidenswertes. Doch wo sollte er da mit seiner Suche anfangen?
»Haben Sie Feinde?«, hatte er gefragt. »Gibt es Kollegen, die Ihnen den Erfolg missgönnen?«
Sie hatte seinen Blick fest erwidert. »Ich wüsste nicht, wen ich mir zum Feind gemacht hätte. Aber bestimmt habe ich dem einen oder anderen schon auf die Füße getreten. Und natürlich gibt es Neider. In Berufen wie meinem gehört das leider dazu.«
In welchem Beruf nicht, hatte Bert gedacht. Und je größer der Erfolg, desto heftiger die negativen Reaktionen.
»Haben Sie sich mit Verlagen überworfen?«, hatte er nachgehakt.
»Nun ja, es hat Konflikte gegeben und zwei- oder dreimal wären sie fast in einen Prozess gemündet. Da wird sich schon so mancher geärgert haben.«
»Genug, um …«
»Eben nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass einer der Menschen, die zu meinem Alltag gehören, beruflich oder privat oder beides, zu so etwas fähig sein sollte. Nein.«
Doch Bert wusste, dass sie sich irrte. Es konnte jeder sein. Ein Buchhändler, ein Verlagsmitarbeiter, ein Journalist.
Und dann kamen noch einige Millionen Leser infrage.
Er rieb sich die Augen, fuhr den Computer herunter und wählte Isas Nummer. »Lust auf ein Essen bei Marcello?«
»Hmmm.«
Isa nutzte, genau wie Bert, ab und zu gern die Möglichkeit, den Mittagspausen in der Kantine auszuweichen. Es war allmählich auch wieder an der Zeit, ein Gespräch zu führen, das nicht alle naselang von irgendwelchen Kollegen unterbrochen wurde.
»Bist du in diesem Stalkingfall weitergekommen?«, fragte Isa, als sie das Präsidium hinter sich ließen und um die erste Ecke bogen.
Bert schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar die offizielle Genehmigung, in der Sache tätig zu werden, aber der Fall hat nicht oberste Priorität.«
Sie nickte, denn das kannte sie selbst sehr gut. Ständig war sie in mehrere Fälle gleichzeitig eingebunden. »Irgendein Anfangsverdacht?«
»Fehlanzeige. Ich sitze vor einem riesigen Puzzle und sämtliche Teilchen sind noch durcheinander.«
Ihr Atem wölkte weiß in der bitterkalten Luft. Sie beeilten sich, um ins Warme zu kommen.
»Ah! La bella Dottoressa!« Marcello küsste mit galantem Schwung Isas Hand, die rot gefroren war.
Isa schenkte dem Wirt ihr strahlendstes Lächeln. Wie Bert gehörte sie schon lange zu Marcellos Stammkunden und doch waren sie sich lange Zeit
Weitere Kostenlose Bücher