Der Schattengaenger
die Toilettenartikel zusammenzuräumen, um abfahrbereit zu sein.
Sie hatte nun schon seit über einer Woche nichts mehr von ihrem abgedrehten Fan gehört. Das hatte eine wilde Hoffnung in ihr ausgelöst. Konnte es nicht sein, dass er genug hatte von seinem Katz-und-Maus-Spiel? Dass er keinen Gefallen mehr an ihr fand? Dass er sie von nun an in Ruhe ließ?
Ihr Gefühl sagte: Ja. Ihr Verstand war anderer Meinung.
Wahrscheinlich war ihm nur etwas dazwischengekommen. Etwas hatte ihn daran gehindert, sich neue Schikanen auszudenken. Er musste doch auch einen Alltag haben, einen Beruf, der ihn in Anspruch nahm. Es war schließlich unwahrscheinlich, dass er sich rund um die Uhr seiner perversen Leidenschaft widmen konnte, anderen Menschen das Leben schwer zu machen.
Anfangs hatte Imke es vermieden, ihn sich vorzustellen. Sie hatte nicht gewollt, dass er ein Gesicht bekam, erst recht nicht durch ihre eigene Phantasie. Das hätte ihn nur stark gemacht, und das durfte er nicht sein, wenn sie sich gegen ihn wehren wollte.
Doch allmählich ließen ihre Gedanken sich nicht mehr zügeln. Dieser Mann musste doch auch jemandes Sohn sein, jemandes Bruder, Schwager, Freund, Geliebter. Es musste Menschen geben, die ihn kannten, zu deren Alltag er gehörte.
Wie alt war er? Wie sah er aus? Wie hörte seine Stimme sich an, wenn er sie nicht verstellte?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als ihr klar wurde, wie sehr das alles stimmte und zueinander passte - dass sie nichts, aber auch gar nichts von ihm wusste, und dass er genau das war, als was er sich bezeichnet hatte, ein Schattengänger.
Mit einem drückenden Gefühl von Hilflosigkeit beugte sie sich über ihren Terminkalender. Für heute standen noch zwei Dinge an. In einer halben Stunde würde sich der erste Bewerber um den Bürojob vorstellen. Danach war sie mit Bert Melzig verabredet.
Sie war heilfroh über jede Ablenkung.
Auf die Anzeige in der Zeitung hatten sich erstaunlich viele Interessenten gemeldet. Imke hatte kräftig gesiebt und schließlich fünf von ihnen auf ihre Liste gesetzt, drei junge Frauen und zwei junge Männer.
Sie fand den Zeitpunkt ideal, um jemanden einzustellen, der einmal die Woche kommen würde, um sie bei der Büroarbeit zu entlasten. Es wäre einer da, der sich während ihrer Abwesenheit um die Post kümmerte, sodass Imke den ohnehin schon überarbeiteten Tilo nicht darum bitten musste.
Eine halbe Stunde bis zu dem Vorstellungsgespräch, Zeit genug, um noch ein bisschen an der Planung ihres neuen Romans zu basteln. Sie zog sich die Unterlagen heran und war eine Minute später in ihre Überlegungen vertieft.
Als es klingelte, kostete es sie alle Mühe, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass der Bewerber pünktlich war, auf die Minute genau. Das war eine Eigenschaft, die ihr gefiel. »Mal gucken, was du sonst so draufhast«, murmelte sie, als sie die Treppe hinunterging, um die Tür zu öffnen.
Der junge Mann, der vor ihr stand, lächelte sie mit einer reizenden Mischung aus Scheu und Selbstbewusstsein an. »Guten Tag«, sagte er höflich. »Ich bin Lukas Tadikken.«
Ich hatte mich über Stalking schlaugemacht. Mehrere Stunden hatte ich am Computer verbracht und mich durch die Flut von Informationen gekämpft. Das Ergebnis meiner Recherchen war ernüchternd. So wie ich das sah, gab es null Chancen, einen anonymen Stalker ausfindig zu machen.
Meine Mutter hatte zwar Anzeige gegen Unbekannt erstattet, und der Kommissar hatte sich der Sache angenommen, aber ich hatte den Eindruck, das war nicht mehr als das Pfeifen im Wald.
Ich hatte mich ein bisschen umgehört, doch unter den Leuten, die ich kannte, gab es keinen, der schon Erfahrungen mit einem Stalker gemacht hatte. Alle waren ziemlich ratlos, genau wie ich.
Vielleicht war das der Preis, den meine Mutter zahlen musste. Vielleicht bekam man einen so märchenhaften Erfolg nicht einfach geschenkt. Doch dieser fatalistische Gedanke widerte mich an, also ließ ich ihn gleich wieder fallen. Als gäbe es irgendwo den großen Zampano, der für alles, was geschah, eine Rechnung aufmachte und die säumigen Zahlungen eintrieb!
Merle und ich hatten uns den Kopf zerbrochen und eine Liste mit den Namen all derer aufgestellt, die uns im Zusammenhang mit meiner Mutter eingefallen waren, angefangen bei ihrem häuslichen Umfeld (praktisch sämtliche Dorfbewohner), über ihren engeren und weiteren Freundeskreis (womit ich schon lange nichts mehr zu tun hatte), bis
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