Der Schattengaenger
verhindern, dass es bei einem Windstoß gegen die Wand schlägt.«
»Mit einem Stück Schnur …«
Die Arglosigkeit der Leute war manchmal erschreckend. Es wollte Bert nicht in den Kopf, dass ausgerechnet eine Krimiautorin, die sich den ganzen Tag mit Verbrechen befasste, einem Eindringling sozusagen Tür und Tor öffnete.
»Spuren?«
»Die Schnur wurde durchgeschnitten.«
»Und sonst?«
»Dieser Typ hat nichts Verwertbares hinterlassen. Er ist erschienen und verschwunden wie ein Geist. Als wär er gar nicht hier gewesen.«
Bert folgte dem Beamten in den Keller, wo die Kollegen sie erwarteten. Die eine Hälfte der durchtrennten Schnur baumelte schlaff am Griff des weit geöffneten Fensters, die andere hing verdreht an einem krummen Nagel in der Innenseite des Rahmens.
Der Kollege von der Spurensicherung hatte seinen Job hier unten erledigt und verstaute das Arbeitsmaterial wieder sorgfältig in seinem Koffer, um oben weiterzumachen.
»Fingerabdrücke?«, erkundigte Bert sich bei ihm.
»Null.«
»Fußspuren?«
»Nichts.«
Geschwätzig war er nicht gerade. Bert schaute sich um. Es war ungewöhnlich sauber und ordentlich. Wahrscheinlich wischte die Putzfrau sogar die Kellerräume regelmäßig.
»Wo ist Frau Thalheim?«, fragte er den Beamten, der ihn hereingelassen hatte.
»In ihrem Schlafzimmer. Herr Baumgart ist bei ihr. Er war nicht dazu zu bewegen, sie auch nur eine Minute allein zu lassen. Obwohl wir ausschließen können, dass der Täter sich noch im Haus befindet.«
»Gut.«
Bert dankte den Kollegen von der Streife und stieg langsam die Treppe hinauf.
Tilo Baumgart kam ihm vor der Schlafzimmertür entgegen und begrüßte ihn. Seine Miene war angespannt, und das wunderte Bert nicht. Es wunderte ihn höchstens, dass der Mann, der doch immerhin Psychologe war und sich im Innenleben psychisch Kranker auskennen musste, Imke Thalheim nicht längst von hier fortgebracht hatte.
Sie saß auf der Bettkante und sah mit einem blassen Lächeln zu ihm auf. »Waren Sie schon in meinem Arbeitszimmer?«
Bert schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich erst vergewissern, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
»Geht schon wieder. Es war nur der erste Schreck.«
Die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, straften ihre Worte Lügen. Es schnürte Bert die Kehle zu, sie so verzagt zu sehen.
»Eine grandiose Inszenierung«, sagte sie in dem vergeblichen Versuch, das alles, einschließlich ihrer eigenen Betroffenheit, herunterzuspielen. »Wagner könnte sich davon eine Scheibe abschneiden.«
Der Kollege von der Spurensicherung war in einem Winkel des Zimmers unauffällig bei der Arbeit. Bert schätzte ihn sehr, denn er ging behutsam und präzise vor und hinterließ niemals einen verwüsteten Tatort. Alles blieb mehr oder weniger so, wie der Täter es arrangiert hatte, was Bert die Arbeit enorm erleichterte.
Du. Du. Du. Von allen Seiten stürmte das Wort auf Bert ein. Eine aberwitzige Liebeserklärung.
Und eine Drohung, wie sie schlimmer nicht sein konnte.
Die samtigen roten Blütenblätter stammten von Baccararosen.
Der Blume der Liebenden.
Bert ließ das morbide Durcheinander, das auf den zweiten Blick eine penible Ordnung erkennen ließ, eine Weile auf sich wirken. Dann zog er die kleine Digitalkamera hervor, die er meistens mit sich trug, und machte einige Aufnahmen.
Schließlich verstaute er sie wieder in der Tasche seiner Jacke und wandte sich zu dem Kollegen um. »Darf ich?«
Der Kollege nickte. »Ich bin so gut wie durch.«
Aus den Tiefen seiner Tasche förderte Bert einige kleine Plastikbeutel zutage und bückte sich, um ein paar Zettel und Rosenblätter aufzusammeln.
Er spürte die Anwesenheit des Mannes noch immer. Seine Schwingungen hingen noch in der Luft. Zum ersten Mal hatte er eine vage Vorstellung von der Persönlichkeit dieses Menschen. Und von seiner Kraft.
Imke wollte sich vor ihrer Abreise nicht noch einmal mit Jette treffen. Je mehr Gewicht sie ihrem lange hinausgezögerten und nun doch recht abrupten Aufbruch verlieh, desto größere Sorgen würde das Mädchen sich machen. Ein kurzer Anruf nach Jettes Dienstschluss, hatte Imke überlegt, würde genügen.
Verwundert stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit keine Angst um ihre Tochter hatte. Der Stalker ließ ihr keinen Raum dazu.
Paradoxerweise beruhigte sie das, denn sie war abergläubisch. Solange sie selbst das Ziel eines Psychopathen war, drohte Jette keine Gefahr, konnte ihr ganz einfach nichts
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