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Der Schattenjäger (German Edition)

Der Schattenjäger (German Edition)

Titel: Der Schattenjäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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oder Gemurmel, als ob sich Morgaunt nicht einmal die Mühe machte, die Zaubersprüche klar und deutlich auszusprechen. Er spielte mit Kräften, die jeden normalen Sterblichen in Angst und Schrecken versetzt hätten, ihn aber offensichtlich gar nicht beunruhigen mussten. Für ihn war Magie ein Werkzeug, mehr nicht. Und er verachtete es. So wie er Polizeipräsident Keegan und all die namenlosen Arbeiter verachtete, die sich in seinen Fabriken abschufteten. Auch sie waren nur Werkzeuge.
    Während Morgaunt weiter seine Zaubersprüche raunte, tauchte der rauchende und knisternde Feuerring alles in ein grünliches Licht. Sascha wurde schwindelig. Er schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. War da ein Schatten zwischen ihm und den Flammen oder stand eine Gestalt mit ihm im Feuerring? Die Schatten, die vor seinen Augen zuckten, gaben aber nicht die Bibliothek wieder, sondern das Bild eines ganz anderen Ortes. Sascha war in einer tiefen Grube, in der bis auf einen schwachen, von oben einfallenden Lichtstrahl tiefe Dunkelheit herrschte. Da war jemand. Ein Junge, nicht älter als Sascha, der sich zitternd an die Wand drückte, das Gesicht im Dunkeln, sodass Sascha nur einen schwarzen Lockenschopf und den blassen Streifen eines Halses über zerlumpten Kleidern erkannte.
    Sascha empfand tiefes Mitleid für ihn. Er brauchte das Gesicht des Jungen gar nicht sehen, um zu erkennen, dass er einem Gefangenen gegenüberstand, der alle Hoffnung aufgegeben hatte. Sascha beugte sich über ihn, und ohne nachzudenken, berührte er ihn in dem Wunsch, ihn zu trösten. Da wendete sich der Junge ihm zu und sah ihn an.
    Eine Eiseskälte ergriff Sascha und nahm ihm alles, seine Wärme, seine Kraft und seinen Lebenswillen. Das Gesicht, das ihn anstarrte, war seines. Aber die Augen – schwarze, abgründig hoffnungslose Augen – waren die seines Dibbuks. In ihnen las Sascha dessen Gedanken und Erinnerungen. Vor seinem geistigen Auge lagen die vorangegangenen Monate des Seelenwesens, als hätte er sie selber erlebt, als ob es seine Erinnerungen und nicht die des Dibbuks wären.
    Sascha durchlebte, wie Morgaunt mit der märchenhaft schönen Musik des Ätherographen Naftali Asher verführte, wie er ihm seinen tiefsten Wunsch erfüllte und zugleich plante, durch Asher die IMW zu ruinieren. Er sah Morgaunt, wie er Ruthie Kessler mit einem Vergessenszauber belegte und der Dibbuk Ashers elektrischen Frack sabotierte. Und endlich begriff er Morgaunts doppeltes Spiel: Asher umzubringen und Saschas Mutter als Ersatz zu nehmen, sodass Wolf den Fall nur lösen konnte, indem er seinen eigenen Lehrling aufgab. Und trotz seiner Sicht durch die wirren Erinnerungen des Dibbuks bekam Sascha eine vage Ahnung von Morgaunts weitreichenden Plänen, Meyer Minsky und den anderen Bandenbossen ihre magische Macht zu entreißen.
    Die dunklen Schatten drehten sich schwindelerregend um Sascha und dann stand er wieder im magischen Kreis gebannt in Morgaunts Bibliothek – neben ihm sein Dibbuk.
    Morgaunt schaute den Schattenjäger fragend an.
    »Worauf wartest du?«, sagte er, trat an den Mahagonischrank und riss die Türen auf. Edisons ätherographische Walzen schimmerten weiß und golden im Licht des Flammenkranzes. Morgaunt wählte eine Rolle aus der Sammlung und hielt sie hoch, damit der Dibbuk sie sehen konnte.
    »Mach ihn fertig, dann gehört sie dir«, eröffnete Morgaunt dem Dibbuk. Und so wie der Blick des Wesens zwischen dem Preis und Sascha hin und her sprang, wusste Sascha genau, wessen Seele auf der Goldfolie eingraviert war.
    »Das würde ich nicht tun«, sagte Rabbi Kessler erneut, aber Morgaunt überhörte es.
    Plötzlich ging eine Welle zornigen Aufbegehrens durch Saschas Körper. Sein Tod war besiegelt, so viel war klar. Aber er wollte verdammt sein, wenn er aufgab, ohne zu kämpfen.
    Er stürzte sich auf Morgaunt, doch der Rand des magischen Kreises explodierte zu einer Wand aus Feuer. Sascha taumelte zurück und in diesem Augenblick hatte der Dibbuk angegriffen. Sascha wehrte sich, packte das Wesen und zerrte an ihm, ohne es richtig zu fassen zu bekommen.
    Sascha hörte, wie sein Großvater ihn anflehte aufzuhören, doch er ließ sich davon nicht beirren. Ja, er war sogar wütend auf den Rabbi, weil er sich nicht gegen Morgaunt aufgelehnt hatte. Welchen Sinn hatte es, besänftigend auf einen Mann einzureden, der ohne jede Scham auf Mord aus war?
    Doch je mehr sich Sascha in den Kampf verbiss, desto stärker wurde die Macht des Dibbuks.

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