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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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Pfeil sollte von hinten dein Herz durchbohren. Du solltest zusammensacken und die Schätze verlieren, die du dir genommen hattest. Ja, dies war die entscheidende Feinheit, die mich am Ende doch zum Sieger über dich machen würde.
    Es war keine Frage, dass ich dich treffen würde. Du hattest keine Ahnung. Du liefst immer weiter und hattest nur den Wunsch, das Ende der Gasse schnell zu erreichen. Aber du warst in meiner Hand. Ich habe so sehr auf deine rennende Gestalt geachtet, dass ich die Rufe nicht hörte, die von der Seite kamen. Mein Finger krümmte sich. Es gab nur diesen einen Zeitpunkt.
    Wer hatte ihn geschickt, den Mann mit den rotblonden Locken, der genau in diesem Moment vor mich sprang, mit den Armen wedelte und schrie, ich solle dich verschonen? Welche Macht hattest du auf deiner Seite, dass der Pfeil, der punktgenau dein Herz durchstoßen hätte, nun das Herz eines anderen durchbohrte? Hätte ich damit rechnen können?
    Gerade als er mit großen Augen niedersank, bist du um die Ecke verschwunden. Du bist verschwunden und bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgetaucht.
    Und was blieb mir? Ein Toter ohne Schätze. Er lag so ungebeten vor meinem Haus, dass ich ihn voller Groll bis zum Abend liegen ließ.
    Ich ahnte nicht, dass mich die geheimnisvolle Macht noch schlimmer bestrafen würde. Mein Gewissen brachte mich schließlich dazu, ihn ins Haus zu holen, den Pfeil aus seinem Körper zu ziehen, sein überraschtes, ehrliches, friedliches Gesicht vom Schmutz zu säubern und ihn in weiße Tücher zu wickeln. Ich lud ihn auf einen Wagen und brachte ihn in der Nacht hinaus aus der Stadt und so weit wie möglich ins Reimutgebirge hinauf. Ich vergrub ihn an einem Ort, den keiner finden würde, nicht einmal ich selbst.
    Als ich wieder heimkehrte, war mein Gewissen immer noch nicht beruhigt. Jeden Tag wuchs dieses furchtbare Gefühl in mir, als hätte die Begegnung mit dir etwas gesät, was nun zu einer abscheulichen Pflanze heranwuchs.
    Weil ich sie an der Wurzel herausziehen wollte, durchsuchte ich den Beutel des Toten. Ich hatte ihn aufgehoben, ohne zu wissen, weshalb. Neben allerlei Alltäglichem fand ich seine Aufzeichnungen. Ich setzte mich an den Tisch, wo ich sonst versuchte, andere um ihren Gewinn zu bringen. Ich las seine Zeilen und konnte nicht aufhören, bis ich alles gelesen hatte. Und dann wusste ich, was ich getan hatte: Ich hatte den Sohn des Grafen von Briangard ermordet.«
    Als Levin, der bisher atemlos gelauscht hatte, diese Worte hörte, durchzuckte es ihn. Er stand am Gitter seiner Zelle und klammerte sich verzweifelt an den Stangen fest. Die Szenen von damals wurden vor seinem inneren Auge wieder lebendig, nachdem sie längst verblasst gewesen waren.
    Mit dem Beutel und dem Stein war Levin an jenem Morgen zurückgekehrt. Er hatte ein Frühstück gekauft, war aufs Dach geklettert und hatte dort nur noch seine eigenen Sachen wiedergefunden. Nie hatte er das Gefühl vergessen, das er damals noch nicht verstand: Es war nicht Wut, wie er glaubte. Es war eine tiefe Enttäuschung. Der Freund, den er für einen Moment besessen hatte, war verschwunden. Ihm, der das Fliehen besser beherrschte als jeder andere, ihm war er entflohen.
    Noach sah seine Erschütterung und sagte: »Wie unwissend du gewesen bist! Du hättest deinen Retter nur für einen Moment anschauen müssen. Du hättest nur kurz deinen Kopf drehen müssen. Aber du bist vor deiner eigenen Tat davongelaufen, als könntest du ihr entkommen, du Narr!
    Oh, hättest du nur gesehen, wie er deinetwegen zu Boden ging! Er sah nicht aus, als hätte er es bereut. Sein Gesicht hättest du sehen sollen, statt so schnell wegzulaufen!
    Wie gerne hätte ich seinem Vater gesagt, dass er stolz auf ihn sein konnte! In seinen Aufzeichnungen schrieb der Prinz so hochachtungsvoll über seinen Vater. Er wäre bereit, alles für ihn zu tun, schrieb er. Was kann einen Vater mehr ehren als solche Worte?
    Ich wollte dem Grafen diese Worte überbringen. Es würde die Tat sein, die mein Gewissen befreite. Doch dies scheiterte an den Toren von Briangard. Sie hielten mich für einen Verrückten und wiesen mich ab. Als ich versuchte, trotzdem in den Palast einzudringen, nahmen sie mich fest und sperrten mich ein. Immer wieder beteuerte ich meine guten Absichten. Aber sie ließen mich nicht zum Grafen. Stattdessen überbrachten sie mir das Urteil: Für den Rest meines Lebens sollte ich in diesem Verlies bleiben.
    Seit acht Jahren sitze ich hier meine Schuld ab. Dabei

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