Der Schattensucher (German Edition)
weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, Levin. Ich habe deine Augen gesehen. Du warst entschlossen. Ich kenne dich doch , sagte sie sich immerzu.
Die Wochen mit Levin hatten sie bei aller Geheimniskrämerei eng mit ihm zusammengeschweißt. Auch wenn sie nie das Lager geteilt hatten, war er ihr nähergekommen als jeder andere Mensch in den letzten Jahren. Weil er ihr nichts versprochen hatte, war sie darauf eingegangen. Sie konnte dabei am wenigsten verlieren, hatte sie geglaubt. Doch jetzt, wo alles von ihm abhing, wo er sie warten ließ und sie nur auf ihn hoffen konnte, holte die Angst sie ein. Warum musste Vertrauen immer so teuer sein? Und warum fürchtete sie sich so sehr, von ihm betrogen zu werden?
Es geht um alles heute Nacht, das ist es , dachte sie. Du hast Angst, es zu vermasseln. Dein Leben wird bald zu Ende sein und du hast dein Ziel noch nicht erreicht. Alles wäre umsonst gewesen, die ganzen Jahre, wenn Levin sie jetzt enttäuschte. Kein Wunder, dass du nervös bist.
»So langsam wird’s aber Zeit«, sagte Merkus.
»Ich sage, wann es Zeit ist. Er wird das schon schaffen.«
Sie ging weiter im Raum umher. Überall standen seltsame Gegenstände. Was waren das für merkwürdige Gläser? Sie erinnerte sich, dass sie damals einen Blick ins Labor hatte werfen dürfen. So gern hätte sie sich alles angeschaut. Aber sie hatte sich nicht getraut, Thanos um Erlaubnis zu fragen. Sobald sie ihn gesehen hatte, hatte sie Angst bekommen und sich verdrückt. Er hatte sie sogar einmal gebeten, ihn in seinen Gemächern zu besuchen. Aber das war ihr zu unheimlich gewesen. Sie allein mit dem Mann, der sie so sehr ablehnte …
Eine weitere Minute verging.
»Jetzt ist die Zeit aber wirklich um«, sagte Merkus nervös.
»Ich weiß. Vielleicht dauert es länger. Wir geben ihm noch eine Minute.«
»Wenn er Schwierigkeiten hat, müssen wir ihm helfen.«
»Die Glocke wurde nicht angeschlagen, oder? Das ist schon mal ein gutes Zeichen.«
»Was, wenn er uns alle an der Nase herumführt?«
»Er wird kommen, da bin ich mir sicher.«
Sie nahm einen Stein vom Regal, einen blauen. Sie hielt ihn vors Auge und blickte hindurch. Auf der anderen Seite leuchtete das Meskanfeuer. Es war, als kehre die alte Zeit zurück. Der Raum wurde in eine neue Farbe getaucht, und sie sah den Palast, wie sie ihn damals erlebt hatte. Sie rannte vergnügt durch die Halle, Alvin dicht auf den Fersen. Die Wachen schauten verwirrt um sich, im ganzen Haus hörte man ihr fröhliches Quieken. Alvin hatte sie immer mit Ehrfurcht behandelt. Nie war er mit ihr in einem Zimmer verschwunden, um ihre Ausgelassenheit auszunutzen. Wenn sie bedrückt war, sah er ihr das an, noch ehe sie selbst wusste, was los war. Wie eine Königin war sie sich bei ihm vorgekommen. Sie erinnerte sich an den Stein, den er ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte so ähnlich ausgesehen wie dieser. Alvin hatte behauptet, ihn selbst gemacht zu haben. Es war ihr schwergefallen, das zu glauben.
Als sie merkte, dass ihre Erinnerungen sich verselbstständigen wollten, legte sie den Stein schnell wieder ins Regal, ging unruhig zur Tür und sagte schließlich: »Irgendwas stimmt nicht.« Sie erhielt ein zustimmendes Nicken. Ihr Hals fühlte sich enger an. Nein, sie konnte sich nicht in Levin geirrt haben. Sie hatte ihn aus dem Gefängnis geholt. Er würde das nicht tun, sie jetzt hängen lassen. Je länger sie sich das sagte, umso enger schnürte es ihr den Hals zu, bis sie schließlich sagte: »Wir stürmen.«
Einen Augenblick später stießen Merkus und Sandrin die Tür auf und sprangen mit erhobenen Schwertern in den Raum. Elena eilte ihnen nach und richtete die Armbrust nach vorn. Einen stillen Augenblick blieben sie so im Düsteren stehen, ehe sie erkannten, dass sie allein waren. Das Bett war leer und zerwühlt und hinten stand ein Fenster offen.
Nein, Levin, nein! Sie rannte zum Fenster, ohne sich umzublicken, und sah in die Tiefe hinunter. Unter ihnen lag der Garten des Innenhofs, keine Menschenseele war zu sehen. Ein langes Seil führte von der Fensterstrebe bis in den Garten hinunter. Gebannt starrte sie darauf, es war eindeutig Levins Seil.
Sie stieß eine Reihe wilder Flüche aus, trat gegen den Holztisch und kümmerte sich nicht darum, dass er laut polterte. Tränen stiegen ihr in die Augen und die beiden Männer mussten sie ermahnen, ruhiger zu sein.
»Es ist aus«, sagte sie. »Wir können wieder gehen.«
44. Kapitel
Levin ging mit der Fackel
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