Der Schattensucher (German Edition)
Gedanken immer wieder zu Levin zurückkehrten. Am liebsten hätte sie ihn sofort vergessen. Er hatte sie wie ein Dummchen behandelt und sie hatte sich so behandeln lassen.
Doch immer wieder dachte sie darüber nach, was im Gemach des Grafen geschehen sein mochte. Was hatte er mit Thanos geredet? Was waren seine Gedanken dabei gewesen? Sie stellte sich den Raum vor und überlegte, wo Levin wohl gestanden hatte. Und dann das Bett und das Fenster. Dazwischen gab es nur … war da nicht eine Treppe gewesen? Sie hatte sie nur flüchtig gesehen, aber jetzt hatte sie sie vor Augen. Ja, da war eine Treppe gewesen. Und überhaupt: Wenn sie in den Hof hinuntergeklettert wären, dann hätten sie doch sofort die Wachen alarmiert. Nichts dergleichen war geschehen.
»Die größten Geheimnisse liegen im Offensichtlichen«, hatte ihr Levin einmal vorgebetet, nachdem er von Thanos zurückgekommen war.
Die Chance war gering. Aber eine geringe Chance war mehr als das, was sie im Moment hatte.
Sie blieb stehen und sagte: »He, ihr beiden. Ich möchte noch einmal zum Gemach zurück. Wir haben die Treppe nicht untersucht.«
»Du bist wohl wahnsinnig! Sei froh, wenn wir hier rauskommen.«
»Na schön, dann geh ich eben allein. Würdet ihr wenigstens so gut sein und am Ausgang auf mich warten? Wenn ich in einer Stunde nicht da bin, könnt ihr ohne mich losfahren.«
Thanos sah in Levins verständnisloses Gesicht und sagte: »Mein Herz hatte ihn verloren. Seit er verschwunden war, herrschte das bittere Gefühl in mir, verraten worden zu sein – nicht weil ich glaubte, dass er mich ernsthaft verraten hatte. Ich glaubte, er habe sein Vertrauen in mich verloren.«
Er begann zu erzählen: »Ich schickte Alvin damals nach Alsuna, weil ich eine Aufgabe für ihn hatte. Es gab ein Geheimnis, das nur er und ich kannten. Es lag darin, dass Alvin meine Unsterblichkeit in seinem Blut hatte. Sie würde aber, so wie es bei mir damals gewesen war, erst dann in Kraft treten, wenn er dem Tod ins Angesicht sah und dabei in seinem Herzen das Leben bewahrte. Glaub mir, wenn du einmal dem Tod ins Angesicht gesehen hast, dann weißt du es. Alvin zweifelte, dass dies möglich sei. Und ich sagte ihm: Wenn du mir vertraust, dass ich die Wahrheit sage, dann hast du in deinem Herzen das Leben bewahrt. Alvin begriff es, so glaubte ich damals. Und ich bat ihn um eine zweite Sache: Er sollte für mich und für ganz Alsuna die Seuche besiegen. Wenn er es schaffte, dem Tod durch die Seuche ins Angesicht zu schauen und ins Leben zurückzufinden, dann würde in seinen Adern das Blut fließen, das auch andere Totgeweihte ins Leben zurückrufen könnte. Das war mein Plan. Sein Blut musste anschließend nur noch in das Heilserum gemischt werden, das ich aus dem Meskan hergestellt hatte. Es würde dann nicht mehr nur den Tod hinauszögern, sondern ihn endgültig vertreiben.
Alvin zog los. Er sollte, wenn er in Alsuna war, Menschen um sich versammeln, die das Heilserum verteilen würden. Es zu haben, ist eine Sache. Es misstrauischen Menschen weiterzugeben, eine andere.
Nachdem Alvin schon eine Weile in Alsuna war, traf ich mich mit einem alten Freund, der in der Stadt lebte. Ich beauftragte ihn, nach Alvin zu sehen und ihn zu unterstützen. Leider erkrankte er selbst an der Seuche und starb. Aber seine Frau, Thekla, machte weiter. Alvin vertraute sich ihr an. Durch Thekla erfuhr ich, dass Alvin sich bewusst mit der Seuche angesteckt hatte. So hatte es sein müssen, das wusste ich.
Doch irgendwann verschwand er. Wir glaubten alle, Alvin sei an der Seuche gestorben. Das schmerzte mich mehr als die Tatsache, dass er nicht mehr da war, denn es musste für mich bedeuten, dass Alvin im Moment des Todes sein Vertrauen in mich verloren hatte und deshalb starb. Wie eine dunkle Decke legte sich die Enttäuschung über mich, wenn ich nur daran dachte. Mein Sohn, dem mein ganzes Herz gehört hatte, hatte mich verraten.
Wir ließen ihn all die Jahre über suchen. Es war die kleine verbleibende Hoffnung, dass er vielleicht noch lebte. Doch mit der Zeit schwand die Hoffnung.
Und jetzt – jetzt höre ich die Wahrheit. Jetzt höre ich, dass Alvin tot ist. Zum ersten Mal habe ich darüber Gewissheit. Doch gleichzeitig höre ich, dass es nicht sein Misstrauen war, das ihn getötet hat, sondern seine Liebe zu dir. Du hast ihn mir genommen, aber du hast ihn mir auch wiedergegeben.«
»Bist du nicht wütend auf mich?«, fragte Levin.
Thanos wandte ihm den Blick zu. Sein Gesicht sah
Weitere Kostenlose Bücher