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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
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voraus. Thanos folgte dicht hinter ihm. Eine Stufe nach der anderen nahmen sie in dem engen Treppenhaus. Er war sich sicher, dass es klappte. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ein Flüchtiger nach oben statt nach unten ging. Niemand würde vermuten, dass sie gerade die Treppe benutzten, die direkt neben Thanos’ Bett anfing.
    Es tat ihm leid, was er Elena damit antat. Dabei hatte er sie gerettet. Er hatte Thanos davon überzeugt, nicht die Klingel zu betätigen, sondern mit ihm zu kommen. Dadurch würde Elena fliehen können. Sicher würde sie das eines Tages erkennen. Ja, vielleicht würde sie das, sie war eine kluge Frau.
    Während er auf die nicht enden wollenden Stufen der langen Spirale blickte, dachte er an das Gespräch zurück, das er im Kerker geführt hatte. Es war das folgenreichste Gespräch seines Lebens gewesen – und das mit einem Mann, den er noch nicht einmal von Angesicht zu Angesicht hatte sehen können.
    Der andere Gefangene hatte ihn wegen des Steins angesprochen, Levin hatte verwundert reagiert und der Mann hatte zu erzählen begonnen:
    »Mein Name ist Noach. Du kennst mich und ich kenne dich. Oh, dass nach all den Jahren der Tag kommt, an dem wir uns wieder begegnen; ich hätte es kaum mehr für möglich gehalten. Wenn du wüsstest, was du all die Jahre nicht gewusst hast …
    Du erinnerst dich an mich, nicht wahr? Ich hielt mich für besonders skrupellos. Bis zu dem Tag, an dem ich dir begegnete. Ich schaute in dein Bubengesicht und wusste, dass ich im Vergleich zu dir nur ein halber Schurke war. Du hast mich erschreckt, als du dagestanden und mir den Stein vors Gesicht gehalten hast. Du erinnerst dich? Ich gab mich überlegen und boshaft. In deinen Augen war ich das vielleicht auch. Aber innerlich war ich erschüttert von deinem Auftreten.
    Ich weiß noch genau: Zweihundert Makel wolltest du haben. Wie unverschämt für so einen jungen Bengel! Ich habe überlegt, ob ich dir den Stein abnehmen und dich mit dem Messer zum Teufel jagen sollte. Aber ich meinte, ich müsste dich besiegen, und ließ mich auf die Verhandlung mit dir ein. Du bist erst nicht von deinem Angebot abgewichen, aber nach einer Weile merkte ich, dass du ungeduldig wurdest. Ein Funke Unsicherheit zeigte sich in deinen Augen. Ich bemerkte es und triumphierte. Wir einigten uns schließlich auf hundertfünfzig Makel.
    Seltsam, dass mir das alles noch so genau vor Augen steht. Ich weiß noch, wie ich dir den Stein in die Hand zurückgab, mich umdrehte und zur Schublade ging. Ich holte den schwarzen Beutel heraus und schüttete ihn auf dem Tisch aus. Fünfzehn goldene Münzen zählte ich ab und steckte den Rest in meine Tasche. Du hast mit leuchtenden Augen zugeschaut. Und ich dachte: So viel Geld in den Händen eines Jungen – es wird ihn ganz groß machen oder vernichten. Und ich erschrak vor deiner Größe. Wie ein Riese erschienst du mir und ich war nichts weiter als ein bedeutungsloser Zwerg, der sich freute, den Preis um fünfzig Makel gesenkt zu haben.
    Erinnerst du dich, wie es weiterging? Ich habe dir den Beutel mit meiner Rechten gereicht und du hast mir den Stein mit deiner Rechten gereicht. Alles lief ab, wie es ablaufen sollte. Bis zu diesem Moment waren wir uns ebenbürtig. Du hast nach dem Beutel gegriffen und ich nach dem Stein. Aber du warst gerissen. Du hattest den Sinn für die Feinheiten. Während ich dir die breite Seite des Lederbeutels zuerst dargeboten habe, hast du mir die spitze Seite des Steins entgegengestreckt. Ich hätte es sehen müssen, ich hätte es spüren müssen! Deine Linke packte zu und riss, deine Rechte umklammerte den Stein. Es waren nur Feinheiten, aber die Feinheiten machten den Unterschied. So bekam ich dein unheimliches Geschick zu spüren. Du hattest beides in der Hand, Beutel und Stein, während meine Finger deinen Schatz nur für einen Augenblick berührten. Wie der Wind warst du zur Tür hinaus.
    Zuerst konnte ich dir nur nachsehen. Fast wie ein Engel bist du die Treppe hinuntergehuscht. Eine geheimnisvolle Macht hatte mich zu ihrem Opfer gewählt, das glaubte ich in diesem Moment. Ich sah den Stein und den Beutel in deinen Händen wippen, während du ranntest und ranntest.
    Doch dann erinnerte ich mich daran, dass auch ich eine Gabe besaß. Vielleicht war es eine böse Gabe, aber jetzt sollte sie der Gerechtigkeit dienen. Ich ergriff meine Armbrust und stellte mich auf die Treppe. Die Gasse war lang, ich hatte Zeit. Meine Hände waren ruhig, mein Auge konzentriert. Der

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