Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
nicht, was Eventualitäten bedeutet, oder?«
Er verzog beleidigt die Nase. »Nich’ jeder hat die Zeit, den ganzen Tag schlaue Bücher zu lesen.«
»Es bedeutet ›Möglichkeiten‹«, erklärte sie behutsam.
»Warum sagst du dann nicht Möglichkeiten?«
»Weil ...«
»Is’ ja auch egal.« Er fand wieder zu seinem alten, spöttischen Selbst zurück und parodierte eine Verneigung. »Danke für die Lektion, Doktor. Gut’ Nacht.«
»Lian, warte! Eine Frage noch.«
Er wartete ab.
»Du scheinst sehr erleichtert zu sein, von Zuhause weg zu kommen.«
»Du meinst von Madames Residenz? Das is’ nich’ mein Zuhause.«
»Wo ist es dann?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wüsst’ ich auch gern.«
»Und was erhoffst du dir auf der Insel zu finden?«, fragte Kriss, bevor er sich wieder abwenden konnte.
Er zögerte einen Moment. Dann zeigte er ein freches Lächeln. »Na, Ruhm und Ehre natürlich, was sonst?« Nein, das war es nicht, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Bis morgen früh, dann!«
Kriss sah ihm nach. Der Junge war rätselhafter als Rabando-Ideogramme aus der dritten Dynastie. Und die waren schon rätselhaft genug.
Zumindest tat die Pastille des Kapitäns allmählich ihre Wirkung. Ihre Übelkeit klang soweit ab, dass sie nicht befürchten musste, jeden Moment wieder in den Waschraum rennen zu müssen. Und während sie allein in ihrer Kabine lag, ausgestreckt auf dem Schrankbett, ohne ein Auge zu zu kriegen, fragte sie sich, ob ihre Entscheidung nicht zu voreilig gewesen war ...
Die Windrose erreichte Tamalea kurz vor Mitternacht. Beide Monde warfen ihr buntes Licht auf schweigende Glockentürme und dunkle Häuser. Nebel wallte über das Pflaster, fast so undurchdringlich wie der Qualm aus den Abertausenden von Schornsteinen.
Eine Stelzer-Kutsche brachte Kriss in Windeseile vom Lufthafen zu ihrem Haus in der Glasbläser-Straße. Sie sah Kaminfeuer hinter den Vorhängen leuchten. Ein Glück, Alrik war noch wach!
Als sie zu ihm in die Stube trat, saß er in seinem Lieblingsohrensessel, sein verletztes Bein ruhte auf einem Hocker. Er gähnte mit weit aufgerissenem Mund wie ein müder, alter Eislöwe. »Da bist du ja endlich!«, sagte er erleichtert und klappte das Buch zu, in dem er bis eben gelesen hatte. »Ich dachte schon, sie lässt dich gar nicht mehr gehen!«
»Bitte, bleib ruhig sitzen«, sagte sie sanft, als er drauf und dran war sich hochzukämpfen.
Alrik legte das Buch zur Seite und musterte sie mit hochgezogener Braue. »Irgendetwas stimmt nicht«, erkannte er.
Kriss lächelte; niemand kannte sie besser als er. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, die Hände in den Schoß gelegt. Und während Alrik sich die Meerschaumpfeife ansteckte, die sie ihm nach ihrer Rückkehr aus der Wüste geschenkt hatte, berichtete Kriss ihm von dem Besuch im Haus der Baronin, von Veribas’ Brief, seinem mysteriösen Hinweis, dem Einbruch des gesichtslosen Mannes und von der Expedition, die zu führen sie zusagt hatte. »Aber ... auf einmal bin ich mir nicht mehr so sicher! Was, wenn es genauso schief geht wie Ka-Scha-Raad?«
Alrik nahm die Pfeife aus dem Mund, blies den Rauch zur Decke. Sein Ausdruck war mitfühlend. »Was mit dem Tempel passiert ist, war nicht deine Schuld. Und außerdem: Um schwimmen zu lernen, muss man manchmal ins kalte Wasser springen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Oder hast du dich etwa anders entschieden?«
»Nein ...« Kriss war zu unruhig, um sitzen zu bleiben. »Ich kann nicht. Es ist vielleicht die beste Chance, sie wiederzufinden!«
Auf einmal wurde sein Blick betrübt. »Mädchen. Du darfst dich nicht darauf verlassen.«
»Aber ich muss es versuchen, das verstehst du doch?«
Er nickte. »Ja. Das verstehe ich.«
Sie ging vor seinem Sessel in die Hocke. »Alrik, ich möchte, dass du mitkommst!«
Er sah sie an und schwieg, eine lange, lange Zeit. Schließlich sagte er, kaum hörbar: »Das wird nicht gehen.«
Kriss schüttelte verwirrt den Kopf. »Was? Aber wieso nicht?«
»Weil ich allmählich zu alt dafür bin.« Er deutete mit dem Mundstück der Pfeife auf sein Gipsbein. »Das ist mir im Tempel klar geworden.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Ich fürchte nein«, sagte er tonlos.
Sie fasste nach seiner Hand. »Aber ich brauche dich!«
»Kriss, es gibt nichts, das ich dir noch beibringen kann.«
»So habe ich das nicht gemeint!«
»Ich weiß. Aber irgendwann werde ich nicht mehr da sein. Du musst auf eigenen Füßen stehen. Und bislang machst
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