Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)
Anflug auf Dschakura.
Die Republik Ramakhan war zum größten Teil eine sengende Ödnis. In der Wüste gab es weniger als zwei Dutzend Oasenstädte und Siedlungen, die kaum die Bezeichnung ›Dorf‹ verdienten. Nur zur Ostküste hin war das Land grün und fruchtbar, fast paradiesisch, mit ausgedehnten Palmenwäldern und ganzjährig blühenden Feldern. Hier, genauer gesagt an der Stillen Bucht, lag Dschakura. Mit über sechstausend Jahren war sie eine der ältesten Städte der bekannten Welt, und die älteste auf dem Kontinent Berael.
Luftschiffe tuckerten über der Stadt dahin, Qualm und Dampf spuckend. Schon von oben konnte Kriss die breiten Straßen sehen und die farbenfrohen Markisen der kastenartigen Häuser mit ihren üppigen Dachgärten. In mehreren Vierteln fanden Basare statt.
Im Laufe seiner Geschichte war Dschakura immer wieder Opfer von Invasoren geworden, die versucht hatten, den Eroberten ihre Kultur aufzuzwingen. Doch die Menschen von Dschakura waren schon immer praktische Leute gewesen. Sie hatten einfach das Beste aus der neuen Kultur angenommen, wie neue Methoden zur Bewässerung oder bequemere Kleidungsstile, und sich gegen alles andere starrsinnig gewehrt. So waren es letztlich die Besatzer gewesen, die sich ihnen angepasst hatten, anstatt umgekehrt. Kriss respektierte die Dschakuraner dafür. Und sie fand, dass sie mit ihrer dunklen Haut und dem kohlschwarzen Haar auch viel interessanter aussahen als die Menschen in Miloria.
Wohin man auch sah, überall in der Stadt fand man Zeugnisse aus der bewegten Geschichte der Republik: Statuen der ersten Herrscher und Herrscherinnen aus vor-republikanischer Zeit; prächtige Kuppelbauten, die aus der Eroberung durch das Kiradianische Reich übrig geblieben waren – und natürlich die massigen, uralten Pyramidentempel, auf deren Spitzen zur Ehrung der Alten Götter turmhohe Flammen brannten.
Aber all diese Bauwerke wurden von der Großen Bibliothek von Dschakura noch überschattet.
Von weitem sah sie aus wie ein Berg, den man grob in Form eines Zylinders gehauen hatte. Bis man näher kam und die unzähligen Fenster und Balkone ringsum erkannte und einsehen musste, dass dies keine natürliche Formation war, sondern ein Gebäude, fast zwanzig Stockwerke hoch. Steinerne Gesichter umringten die Spitze der Bibliothek und blickten weise und wohlwollend auf die Stadt herab. Ihre Münder hätten die umherschwebenden Flugmaschinen verschlucken können wie dicke Käfer.
Kriss verschlug es den Atem. Sogar Lian hob anerkennend die Augenbrauen. »Warst du schon mal da drin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Während meines Studiums hatte ich einfach nie die Zeit gefunden. Ich habe nur darüber gelesen.«
»Du hast über ziemlich viele Dinge ›nur gelesen‹, kann das sein? Was, wenn die uns da nich’ reinlassen?«
»Das wird nicht passieren.« Kriss konnte den Blick nicht vom Bullauge lösen. »Die Bibliothek steht allen offen.«
»Und du bist sicher, dass die Tolmens Bestia-Dingsbums hier haben?«
Kriss nickte. »Wenn wir irgendwo ein Exemplar des Buches finden, dann hier. Königin Gajeska die Kühne hat die Bibliothek im Jahre 1103 errichtet. Um sie zu füllen, hatte die Königin ihre Einkäufer durch die ganze bekannte Welt geschickt. Außerdem hatte sie ein Gesetz erlassen, nachdem Reisende alle Bücher, die sie mit ins Königreich brachten, abgeben mussten, damit die königlichen Schreiber sie kopieren konnten. Das Gesetz wurde erst vor wenigen Jahren abgeschafft.«
»Wofür die ganze Mühe?«
»Um Wissen zu sammeln. Der Name der Bibliothek in Ramakhanisch ist Assadar-genn-Relar , das Gedächtnis der Menschheit. Die Außenmauern des Gebäudes sind stark genug, einer Invasionsarmee oder Feuersbrünsten standzuhalten. Im Notfall kann es hermetisch abgeriegelt werden und in seinem Keller befinden sich Vorräte für Jahre.« Auf dem Korridor hörte sie die Schritte der Matrosen. Sie machten sich zur Landung bereit.
»Und wenn einer das Buch schon ausgeliehen hat?« Lian verschränkte die Arme.
Kriss lächelte gelassen. »Kein Buch verlässt die Große Bibliothek. Es gibt besondere Säle und einzelne Räume, in die man sich zurückziehen kann, um die Exemplare zu lesen, und sogar eine eigene Küche, die die Besucher bewirtet. Manche verbringen Jahre in dem Gebäude.«
»Spannend.«
»Du hast nicht viel übrig für Geschichte. Oder für Archäologie.«
»Nö. Ich leb’ lieber in der Gegenwart.«
»Aber genau darum geht es doch: wie
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