Der Schatz der gläsernen Wächter (German Edition)

bilden kann, kann jedes von ihnen allein auch für ein Wort stehen. Ni heißt Arm, Gu Sonne, Ong ist Brot und Bem Mensch.« Sie pustete in ihre Tasse mit Mondblütentee. Draußen gellte der Gesang einer Priesterin über die Dächer und rief die Gläubigen zum Gebet.
    »Arm, Sonne, Brot, Mensch ...« Lian rieb sich seine Narbe. Anscheinend konnte er damit auch nicht viel anfangen.
    »Ich habe mir noch einmal die hiesigen Mythen angesehen, aber nichts gefunden, das irgendeinen Sinn ergibt.« Kriss schlürfte ihren Tee.
    »Kommt vielleicht der Name einer Gegend dabei raus?«
    »Wenn, dann ist es keine, die ich kenne.«
    » Schessk . So kurz vorm Ziel hätt’s uns der Kerl ruhig ’n bisschen leichter machen können! Einfach ’ne Nachricht: ›fliegt nach da-und-da‹! Oder wenigstens was, bei dem wir nur eins und eins zusammen zählen müssen – wär’ das zu viel verlangt?«
    Kriss verschluckte sich am Tee. Lian sah sie erschrocken an. »Hab ich was Falsches gesagt?«
    Hustend und röchelnd wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Nein!«, krächzte sie. »Eins und eins!«
    »Eins und eins?«
    »Zahlen!« Kriss blätterte wie wild in dem Buch. »In manchen Schriftsystemen gibt es keine eigenen Symbole für Zahlen – stattdessen benutzt man Buchstaben!«
    »Du meinst ...?«
    »Ganz genau! Koordinaten!« In ihrer Eile riss Kriss fast eine Seite aus dem Buch. »Es muss doch irgendwo – hier !«
    Ihr Finger tippte auf eine Tabelle mit Nabandi-Schriftzeichen – und Feban-Zahlen darunter. »Lian, du bist ein Genie!«
    Er grinste. »Meine Rede!«
    »Hör dir das an! Ni steht für die Sieben. Gu ist die Neun. Ong die Fünf und Bem die Sechs.« Während sie las, kritzelte sie die Zahlen auf ein Blatt Papier.
    »Aber ... daraus kann man doch alle möglichen Kombinationen zusammenkombinieren – oder? Woher wissen wir, welche davon er gemeint hat?«
    Kriss stockte. Das war eine sehr gute Frage. Sie warf einen Blick auf die Zeichen aus dem Grabmal. Dann ließ sie sich von Lian die Schreibfeder geben und malte ein Quadrat auf das Blatt.
    »Was wird das?«
    »Das ist die Grabkammer.« Kriss malte einen schwarzen Kringel in die Mitte der unteren Seite des Quadrats: der Eingang in die Kammer. »Hier habe ich das erste Zeichen gefunden.« Sie markierte die betreffende Stelle. »Hier das zweite, hier das dritte – und hier das vierte.«
    »Und wie hilft uns das weiter?«
    »Nabandi wird von rechts nach links geschrieben. Vielleicht ist das die Reihenfolge, in der die Zahlen angeordnet werden müssen. Verstehst du?«
    »So blöde bin ich nun auch wieder nich’.«
    Sie sah erschrocken auf. »So hab ich das auch nicht gemeint!«
    Er lächelte. »Ich doch auch nich’. Also – wie is’ nun die Reihenfolge?«
    »Fünf, sieben, neun, sechs.« Kriss schrieb die Zahlen auf. »Siebenundfünfzig, sechsundneunzig«, murmelte sie. »Im alten Ulgrai kannte man keine Längen- und Breitengerade. Die sind erst vor knapp dreihundert Jahren eingeführt worden. Wahrscheinlich hat Veribas die modernen Angaben verwendet, zuerst den Breitengrad und dann den Längengrad.«
    »Wenn’s denn wirklich Längen- und Breitendinger sind«, gab Lian zu bedenken.
    Kriss’ Schultern sanken herab. Natürlich, sie konnte auch meilenweit daneben liegen. Aber andererseits passte diese Art der Verschlüsselung zu Veribas’ Stil. »Gehen wir mal davon aus, dass es doch welche sind«, sagte sie. »Dann haben wir siebenundfünfzig Grad nördliche Breite ...«
    »Moment! Wieso nördlich und nich’ südlich?«
    »Wenn es südlich wäre, dann wäre das mit einem Minus davor angezeigt. Und so etwas wie negative Zahlen kannte man zu der Zeit, als das Grabmal errichtet wurde, noch nicht. Mal sehen«, sie knetete ihre Unterlippe, »die Neun und die Sechs wären dann sechsundneunzig Grad östliche Länge. Östlich weil ...«
    »Kein Minus vorsteht. Klar.« Lian sah sich die Zahlen noch einmal an – 5, 7, 9, 6 – und kam ins Grübeln. »Aber wer sagt, dass es siebenundfünfzig Grad irgendetwas und sechsundneunzig soundso sind, und nich’ ...«
    »Fünf Grad nördliche Breite und siebenhundertsechsundneunzig Grad östliche Länge?«
    »Zum Beispiel.«
    Kriss lächelte wissend. »Ganz einfach: Die Länge geht nur von null bis hundertachtzig Grad – Plus oder Minus. Und die Breite nur von null bis neunzig.«
    Sie sah, wie Lian angestrengt versuchte, bei all den Zahlen den Überblick zu behalten. Sie glaubte ihm nicht ganz, als er sagte: »Ah.