Der Schatz des Blutes
konnte, stellte er oft fest, dass ihn sein ursprünglicher Instinkt nicht getrogen hatte.
In einem der Archive, das sich in der Nähe der Stadt Carcassonne im Languedoc befand, wurden Kopien der Schriften des jüdischen Historikers Josephus aufbewahrt. Mit Hilfe eines Mentors, der in diesen Schriften sehr versiert war, lernte Stephen, dass Josephus bei allem Eigennutz ein detailliertes Bild von der politischen und militärischen Situation im Judäa und Palästina seiner Zeit gezeichnet hatte. Nachdem er die Beschreibungen und Ansichten in Josephus’ bekanntesten Werken, Der jüdische Krieg und Das jüdische Altertum , mit christlichen Schriften verglichen hatte, gab es für Stephen keinen Zweifel mehr daran, wie sehr der Missionar Paulus die Lehren der Jerusalemer Urgemeinde verwässert hatte, um sie für seine eigenen Zwecke zu missbrauchen. Kurz nach der Zerstörung Jerusalems hatte er die alte Religion von ihrem ursprünglichen, römerfeindlichen Nationalismus und ihren Vorbehalten gegenüber Nichtjuden bereinigt, sodass sie für die kaiserlichen Autoritäten und die vielsprachige Bürgerschaft Roms akzeptabel wurde.
Gleichfalls faszinierten ihn die Anfänge der römischen Kirche. Kaiser Konstantin hatte die Kirche im vierten Jahrhundert zu einer römischen Institution gemacht und ihr die revolutionären Zähne gezogen, obwohl ihn doch genau diese zunächst so angesprochen hatten. In einem nie da gewesenen politischen Geniestreich hatte Konstantin die Kirche zu einem integralen Teil des Reiches gemacht, indem er den Papst und die Kardinäle zu Prinzen erklärte. Als Krönung seiner List hatte er sie mit einem irdischen Palast beschenkt, der von nun an ihre weltliche Bedeutung symbolisieren würde – und damit das Ende der Bewegung bedeutete, die von Jesus, Jakobus und. den anderen Anhängern der Jerusalemer Urgemeinde ins Leben gerufen worden war.
All diese Entdeckungen erfüllten ihn mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl, denn dies war schwindelerregendes, beängstigendes Wissen, das nach Häresie roch. Doch er wusste genauso, dass der Orden der Wiedergeburt Beweise für all seine Lehren hatte, eine Sammlung von Dokumenten, die von den flüchtenden Juden aus Judäa geschmuggelt worden war und durch ihren Umfang, ihr Alter und ihre unleugbare Authentizität beeindruckte. Ihm war längst klar, dass ein Leben nicht ausreichte, um dieses Material zu studieren, und dass ganze Heerscharen von Archivaren seit über einem Jahrtausend nichts anderes getan hatten, als diesen Schatz zu erforschen, zu übersetzen und zu deuten.
Er glaubte nun, dass der Orden der Wiedergeburt der einzig legitime irdische Nachfolger der Jerusalemer Urgemeinde war und dass er, sollte seine Existenz bekannt werden, umgehend von der Schöpfung des heiligen Paulus ausgelöscht werden würde. Von jener christlichen Kirche, die seit zwölfhundert Jahren ihre Gegner systematisch und rücksichtslos ausrottete, um ihre eigene Macht zu wahren und sich die Welt zu Willen zu machen – ein Wille, der ohne jeden Zweifel von Menschen formuliert worden war.
Letzteres war ein wichtiger Punkt. Denn diese so genannten Gottesvertreter, ob sie sich nun Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle, Päpste oder Patriarchen nannten, waren ausnahmslos Menschen, sterbliche Menschen. Die durch ihr ganzes Leben und ihre Handlungen täglich demonstrierten, wie wenig sie von ihrem angeblichen unsterblichen Gründer wussten und wie wenig sie sich für ihn interessierten – den Mann, der vor so langer Zeit in Judäa gelebt hatte und am Kreuz gestorben war, weil er gegen die Römer konspiriert hatte.
Inzwischen war St. Clair überzeugt, dass Paulus eher ein egoistischer Zyniker als ein Heiliger gewesen war. Er hatte den Scharfsinn und den opportunistischen Instinkt besessen, eine großartige Idee zu erkennen. Also hatte er sie sich einverleibt, sie von allem befreit, woran sich ein Nichtjude hätte stoßen können, und sie zielstrebig in einen eigennützigen Organismus verwandelt. Es wurde eine mächtige Kraft der Revolution und Reformation, letztendlich aber auch eine solche Einkommensquelle, dass sich Kaiser Konstantin – der Paulus, zumindest was seinen Opportunismus betraf, in nichts nachstand – Jahrhunderte später inspiriert gefühlt hatte, sie sich selbst zunutze zu machen.
Zu diesem Zeitpunkt – dreihundert Jahre nach der Zerstörung Jerusalems – lebten die Familien, die den Orden der Wiedergeburt speisten, seit über fünfzehn Generationen im Süden
Weitere Kostenlose Bücher