Der Schatz des Blutes
geraubt.«
»Aber –«
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Aber Jesus hatte doch gar keine Brüder , denkst du jetzt. Wenn es so gewesen wäre , müssten sie doch in der Bibel erwähnt sein . Nun, die Antwort darauf ist, dass es auch so gewesen ist. Doch dann hat man die Evangelien so umgeschrieben, dass diese Dinge nicht mehr darin vorkamen und sie nur noch das enthielten, was in das gewünschte Bild passte – denn wie hätte eine jungfräuliche Mutter mit älteren Brüdern zusammengepasst?«
William hielt inne und sah seinen Neffen beschwörend an.
»Jesus hatte Brüder, Stephen. Im Grunde hast du das doch gewusst, oder?«
Stephen schüttelte den Kopf, und William schnaubte ungeduldig. Dann richtete er sich zu voller Größe auf und sprach sehr betont weiter.
»Nun, so war es aber. Einer von ihnen, der sogar im Evangelium vorkommt und in den Schriften des Paulus Erwähnung findet, ist Jakobus gewesen, der wegen seiner Prinzipientreue auch Jakobus der Gerechte genannt wurde. Nach der Kreuzigung ist Jakobus der Anführer der Bewegung geworden, die wir heute die Urgemeinde von Jerusalem nennen und die von Jesus und seinen Brüdern gegründet wurde – die Urkirche. Und ihr erster Anführer nach dem Tod Jesu war sein Bruder Jakobus. Nicht Simon, der auch Petrus genannt wurde. Es war Jakobus …«
Schließlich war es der Graf, der das Gespräch für diesen Tag beendete und Stephen reichlich Stoff zum Nachdenken mit auf den Weg gab.
»Du hast heute Nachmittag so viel gehört, dass dir der Schädel brummen muss«, sagte er. »So viel Neues und Unerwartetes. Ich kann dich verstehen und dein Onkel ebenfalls. Aber vergiss nicht, was wir dir gesagt haben: Du hast alle Zeit der Welt, um das, was wir dir gesagt haben, weiter zu erforschen. Du kannst alle Dokumente in unseren Archiven einsehen und unsere gelehrtesten Brüder befragen, die ihr Wissen gern mit dir teilen werden. Du darfst nur nicht vergessen, dass es zu jedem Thema verschiedene Standpunkte gibt.«
Er hielt inne und warf Stephen einen wohlwollenden Blick zu.
»Was den Mann betrifft, den man Paulus nennt, so wirst du herausfinden, dass es Stimmen aus der Vergangenheit gibt, aus seiner Zeit, die eindeutig besagen, dass er nicht der war, der er zu sein schien, und dass sein Charakter alles andere als unbefleckt war. Es gibt sogar Quellen, die belegen, dass er ein Spion des Kaisers Nero gewesen ist. Wieder andere deuten an – und hier spreche ich bewusst nur von Andeutungen –, dass er direkt in den Mord an Jakobus verwickelt gewesen sein könnte. Denn dieser machte kein Geheimnis daraus, dass er den Mann verachtete, während Paulus in Jakobus eine Bedrohung seiner Missionsarbeit gesehen haben muss.«
Der Graf erhob sich, um zum Schluss zu kommen.
»Natürlich steckt hinter all dem noch viel mehr, und unser Orden, der direkt von den Essenern abstammt und ihren Weg weiterverfolgt, hat die Pflicht, seinen Mitgliedern den unverstellten Blick auf die Anfänge zu ermöglichen. Vergiss das nicht und halte dich an das Gelübde, das du bei deiner Weihe gesprochen hast. Jetzt solltest du gehen und weiter über das nachdenken, was wir hier besprochen haben. Wenn du noch weitere Fragen hast, kannst du sie jedem von uns stellen. Und nun geh in Frieden.«
6
D
IE SAAT DIESES TAGES schlug in Stephens Gedanken kräftige Wurzeln, und sein Wissensdurst war in der Folge kaum zu stillen. Alles, was mit der Jerusalemer Urgemeinde zu tun hatte, mit dem Weg der Essener und den Anfängen der christlichen Religion, wie man sie dank Paulus zwölfhundert Jahre später kannte, sog er in sich auf. Er bereiste das ganze Land, um den Archivaren des Ordens der Wiedergeburt zuzuhören, den Wächtern und Übersetzern der Überlieferung.
Die Archive verblüfften ihn immer wieder, denn trotz der Masse an Wissen, die sie beinhalteten, nahmen sie nur verhältnismäßig wenig Raum ein. Sie bestanden zum Großteil aus Pergamentrollen, die viel leichter und weniger sperrig waren als die mächtigen Bücher oder auch Kodexe.
Zudem war das Archiv auf die wichtigsten Häuser der befreundeten Familien verteilt, wo die Unterlagen von ranghohen Brüdern gehütet, studiert und für die Nachwelt bewahrt wurden.
Er wurde ein Experte, was die politischen Verhältnisse in Judäa zur Zeit Herodes’ und die Ziele und Glaubensinhalte der diversen messianischen Sekten betraf. Er entwickelte ein gutes Gespür für Wahres und Falsches. Wenn er das Gehörte dann durch weitere Recherchen verifizieren
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