Der Schatz des Blutes
Galliens, wo sie sich nach ihrer Ankunft angesiedelt hatten. Niemand hätte je vermutet, dass ihre Ursprünge nicht dort lagen, wo sie es inzwischen zu großem Wohlstand gebracht hatten.
Die befreundeten Familien, wie sie sich selbst nannten, hatten sich nahtlos in die Gesellschaft eingefügt, die sie adoptiert hatte, und sich zu befreundeten Clans entwickelt. Die dreißig ursprünglichen Familien existierten zwar noch, doch sie hatten zahlenmäßig enorm zugenommen. Sie alle waren sich bewusst, dass es eine uralte, geheimnisvolle und heilige Verbindung zwischen ihnen gab. Kaum jemand von ihnen fragte sich jedoch, worauf sie beruhte. Sie betrachteten diese Verbindung als Selbstverständlichkeit, als Tatsache, die schon existiert hatte, bevor ihre Urgroßeltern geboren wurden, und die weiter existieren würde, wenn sie selbst und ihre Enkel längst unter der Erde lagen. Genauso selbstverständlich war es für sie, dass sie Christen waren.
Nur in den tiefsten Winkeln der bestgehüteten Familiengeheimnisse verbarg sich die Wahrheit – eine Wahrheit, die in jeder Generation von einem einzigen Familienmitglied gehütet und als heilige Pflicht an die Nachwelt weitergegeben wurde. Eine Wahrheit, die keiner der anderen Verwandten geglaubt hätte.
Ihre Urahnen, die Gründer der befreundeten Familien, waren ausnahmslos Priester der Jerusalemer Urgemeinde gewesen, Anhänger der Urkirche Jesu und Jakobus’ des Gerechten. Die Hinrichtung Jesu durch die Römer hatten die Jerusalemer noch hingenommen. Doch als sein Bruder Jakobus von Unbekannten brutal zu Tode geprügelt wurde, hatte es einen Aufschrei gegeben, der zum letzten Aufstand der Juden gegen die Herodianer und gegen Rom geführt hatte. Gleichzeitig rief er Vespasian und seinen Sohn Titus auf den Plan, deren Armeen sich rücksichtslos daranmachten, die jüdischen Unruhestifter ein- für alle Mal auszulöschen.
Gegen Ende der Belagerung Jerusalems, als man die Zerstörung der Stadt und des Tempels für unausweichlich hielt, hatten die Priester der Urgemeinde ihre heiligsten Kultgegenstände, Aufzeichnungen und Reliquien tief unter der Erde an einem Ort verborgen, wo die raffgierigen Römer sie niemals finden würden.
Erst danach, als sie sicher waren, dass sie alles getan hatten, um das, was sie nicht mitnehmen konnten, in Sicherheit zu bringen, hatten sie sich dem Strom der Flüchtlinge angeschlossen. Jahrelang waren sie als großer, scheinbar loser, aber eng verbundener und autarker Verband durch die Mittelmeerregion gewandert, bis sie Südiberien und schließlich das südliche Gallien erreicht hatten, wo sie sich in der Region ansiedelten, die man das Languedoc nannte.
Dort waren sie geblieben; ihr Besitz, ihr Wissen und ihre heiligsten Überlieferungen hatten Wurzeln geschlagen. Und schließlich hatten sie eine geheime Gilde aus den vertrauenswürdigsten Männern unter ihnen mit der Bewahrung ihrer größten Geheimnisse betraut.
Dies war der Gipfel der Dinge, die Stephen St. Clair als ironisch empfand: dass er, der weitgehend von Mönchen und Kriegern aufgezogen worden war und davon geträumt hatte, in Anjou, der Heimat seiner Vorfahren, einem christlichen Kloster beizutreten, nun zu den neun kuriosesten Geschöpfen in den gesamten christlichen Annalen zählte – den Mönchskriegern der Armen Soldatenkameraden Jesu Christi … und dass ausgerechnet er die Geschichte der Christenkirche mit solcher Besessenheit studiert hatte, dass er inzwischen mehr oder minder in der Lage war, sie vielleicht nicht zu zerstören, aber doch die Authentizität ihrer Kernaussagen ernsthaft in Zweifel zu ziehen.
M IT L EIB UND S EELE
1
B
RUDER STEPHEN ERWACHTE in heller Panik. In seinem Kopf hallte ein Echo wider, das an einen erstickten Schrei erinnerte, als er feststellte, dass er senkrecht im Bett saß und die Hände von sich gestreckt hatte, als wollte er einen Feind abwehren. Er brauchte noch einige Sekunden, um festzustellen, dass er nichts sehen konnte, dass sein Mund vor Schreck völlig ausgetrocknet war, dass sein Herz schmerzhaft heftig schlug und dass er die Luft angehalten hatte.
Er schluckte krampfhaft und ließ vorsichtig die Arme sinken; dann rieb er sich die Augen und versuchte, sich in der Dunkelheit umzusehen – vergeblich, denn ringsum war es pechschwarz, doch sein Körper erkannte die harten Bretter seiner eigenen Liege, und während sich sein Herzschlag allmählich wieder verlangsamte, erkannte er die vertrauten Nachtgeräusche seiner Kameraden, die vor
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