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Der Schatz des Blutes

Der Schatz des Blutes

Titel: Der Schatz des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Whyte
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schon gar nicht abends, so kurz vor der wichtigsten Mahlzeit des Tages. Zu dem Zeitpunkt war er normalerweise mit seinen zahlreichen Gästen beschäftigt, die aus ganz Outremer, aber ebenso aus Rom und den zahlreichen anderen Königshöfen der Christenwelt nach Jerusalem kamen. Als Monarch des Königreichs Jerusalem hatte ihr Vater zehnmal so viel zu tun wie in seiner Zeit als Graf von Edessa.
    Als die Palastwache sie eine halbe Stunde später in das Audienzgemach führte, stellte sie überrascht fest, dass ihr Vater nicht nur allein auf sie wartete, sondern auch bester Laune war. Er erhob sich zwar, sobald sich die Tür zu öffnen begann, doch sie hatte noch gesehen, wie er wenig elegant auf der Armlehne seines vergoldeten Sessels thronte und ein Pergament las, das er mit beiden Händen in das Licht der brennenden Fackel hielt, die hinter ihm auf einem hohen Bronzeständer brannte.
    Beim Eintreten seiner Tochter ließ er das Pergament los, sodass es sich wieder aufrollte, dann stieg er zügig von seinem Podest, um Alice mit einem breiten Lächeln zu begrüßen.
    Alice erwiderte sein Lächeln, knickste und küsste ihn auf beide Wangen. Dabei nannte sie ihn Papa und gab sich überhaupt alle Mühe, einen züchtigen Eindruck zu machen. Es hatte schließlich einmal eine Zeit gegeben, als es für sie selbstverständlich war, ihren Vater täglich unter vier Augen zu sehen, ohne dass ein ständiges Kommen und Gehen von Höflingen und anderen Speichelleckern jede ernsthafte Unterhaltung unmöglich machte.
    Nun nahm er ihre Hände sanft in die seinen, um sie an die Lippen zu heben und sie sanft zu küssen, bevor er sie wieder losließ und sich einem Tisch zuwandte, der mit Dokumenten übersät war; Zeugnisse seiner täglichen Arbeit. Er zögerte einen Moment und überflog die Ansammlung der Stapel und Rollen, dann ergriff er einen kleinen, in Leder gewickelten Gegenstand und wog ihn nachdenklich in der Hand, während er sich nach Alice umsah.
    »Ist dir die Gesandtschaft aufgefallen, die heute aus Frankreich gekommen ist, meine Liebe?«
    Alice schüttelte überrascht den Kopf, da sie normalerweise über die Vorgänge am Hof ihres Vaters stets im Bilde war.
    »Nein, ich hatte keine Ahnung. Wann ist sie gekommen, Papa?«
    »Am frühen Nachmittag. Sie sind aus Jaffa gekommen und mussten über eine Woche warten, bis sich eine Karawane zusammenfand. Dann haben sie noch drei Tage für den eigentlichen Weg gebraucht. Viel zu lange.«
    »Ist denn die Straße nach Jaffa immer noch so gefährlich? Ich dachte, die Mönchsritter kümmern sich jetzt darum.«
    »Das tun sie auch, meine Liebe, das tun sie auch, aber sie sind ebenfalls nur Menschen. Sie patrouillieren regelmäßig auf den Straßen nach Jericho und nach Jaffa, aber die Straße nach Jaffa ist länger und unübersichtlicher, und sie wird weniger von Pilgern benutzt.«
    »Seit wann sind denn Pilger wichtiger als königliche Gesandte aus der Christenwelt?«
    Ihr Vater lächelte ihr voller Zuneigung zu.
    »Das kommt ganz auf den Standpunkt an. Der Patriarch – und damit auch Bruder Hugh und seine vortrefflichen Brüder – sorgt sich vor allem um das Wohlergehen der Pilger. Daran können wir kaum etwas ändern. Doch wie dem auch sei, meine Liebe, nun sind die Gesandten hier, und sie haben dir etwas mitgebracht.«
    Das Päckchen, das etwas größer war als ihre geöffnete Hand, war flach, rechteckig und ziemlich schwer. Im ersten Moment hatte sie Schwierigkeiten damit, den komplizierten Knoten zu lösen, der die hübsche Lederverpackung zusammenhielt. Sie hätte den Riemen natürlich einfach durchschneiden können, doch aus irgendeinem Grund bemühte sie sich stattdessen hartnäckig, bis sich der Knoten in ihren Fingern löste. Nachdem sie die Verpackung aufgeklappt hatte, starrte sie mit großen Augen auf das Miniaturporträt in ihrer Hand. Es war auf ein kleines Holzbrettchen gemalt und mit einer vergoldeten Kante aus geschnitzten Akanthusblättern eingerahmt.
    Der Gegenstand des Porträts war ein junger Mann mit goldenen Locken und leuchtenden, lächelnden blauen Augen. Selbst wenn der Maler seinem Modell hatte schmeicheln wollen, war es nicht zu übersehen, dass der Mann auf dem Bild von bemerkenswert gutem Aussehen sein musste.
    Auf den ersten Blick glaubte sie, ein Porträt des Grafen Fulk von Anjou vor sich zu sehen, der sich vor zwei Jahren während eines kurzen Besuchs im Heiligen Land mit ihrer älteren Schwester Melisende verlobt hatte. Ein unlogischer Impuls ließ sie

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