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Der Schatz des Blutes

Der Schatz des Blutes

Titel: Der Schatz des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Whyte
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ändert nichts daran, dass unser Feudalsystem nur dem einen Zweck dient, den Machthabern zu nutzen. Und damit, Bruder Stephen, schadet es allen. Selbst die Männer auf dem Gipfel der Macht werden oft davon zermalmt. Wenn ich könnte, würde ich das ändern, doch ich kann es nicht. Ich bin nur eine Frau. Und eine Frau ist in dieser Männerwelt machtloser als ein Leibeigener. Was ist? Ihr seht aus, als wolltet Ihr etwas hinzufügen?«
    »Nein, Mylady, nicht das Geringste.«
    »Nun dann, fangen wir also endlich an, Ihr und ich.« Sie klatschte scharf in die Hände, und ein alter Mann kam durch die Tür am anderen Ende des Zimmers und trat zu ihr.
    »Ishtar«, sagte sie, ohne den Blick von St. Clair abzuwenden, »dies ist Bruder Stephen von den Mönchen auf dem Tempelberg. Heute ist er jedoch als Sir Stephen St. Clair hier, um mir behilflich zu sein. Geleitet ihn bitte in die Bäder. Sir Stephen?«
    Sie hatte die rechte Augenbraue hochgezogen, doch St. Clair konnte nicht abschätzen, ob es eine Miene der Neugier oder der Herausforderung war. Er selbst ließ nichts von seinen Gedanken durchscheinen, während er mit sich selbst debattierte.
    Schon bevor er diese Räume betreten hatte, war ihm klar gewesen, dass sie sehr wahrscheinlich darauf bestehen würde, dass er ein Bad nahm. Er war sich der damit verbundenen Gefahren für seine Keuschheit – die ohnehin schon bis an die Grenze des Lächerlichen kompromittiert war – sehr wohl bewusst. Solange er ungewaschen war und stank, würde sie sich von ihm fernhalten. Das würde sich möglicherweise ändern, wenn er dem Dampfbad entstiegen war. Dann würde sie nichts mehr davon abhalten, sich ihm zu nähern. Sein Vertrauen in seine Fähigkeit und seinen Willen, ihren Schmeicheleien zu widerstehen, war nur gering. Und wenn er sich ihr diesmal ergab, würde seine Absicht außer Zweifel stehen.
    Er konnte es auf eine Konfrontation ankommen lassen. Je nachdem, wie sehr sie auf seine Mithilfe und sein Wissen angewiesen war, würde er vielleicht sogar die Oberhand behalten. Andererseits war es denkbar, dass seine Weigerung, ein Bad zu nehmen, dazu führte, dass ihre Freundlichkeit und die verblüffende Offenheit der vergangenen Minuten ein abruptes Ende fanden.
    Genau darin lag die Krux. Er konnte sich nichts Wichtigeres vorstellen – für ihn selbst wie für den Orden der Wiedergeburt – als herauszufinden, was sie wusste und was sie zu erfahren hoffte. Also war es sinnvoll, sich ihren Wünschen zu beugen und ihr Wohlwollen zu nutzen, um sie später in aller Freundlichkeit aushorchen zu können.
    Er erhob sich wortlos, und sie legte den Kopf zurück, um ihm weiterhin in die Augen sehen zu können. Sie hatte die Augenbraue nach wie vor hochgezogen, und er konnte ihre Miene immer noch nicht interpretieren.
    »Ich erinnere mich noch, Mylady.«
    Er hatte nicht vorgehabt, das zu sagen. Die Worte waren ihm aus dem Mund geschlüpft, bevor ihm überhaupt bewusst wurde, dass er sie gedacht hatte. Sie riss die Augen auf – vor Überraschung, unter die sich noch etwas mischte … Verwirrung, dachte er, oder vielleicht ebenso Bestürzung. Doch als sie das Wort ergriff, war ihr nichts davon anzuhören.
    » Woran erinnert Ihr Euch, Bruder Stephen?«
    Er lächelte, erstaunt, wie leicht ihm seine Antwort fiel, und er neigte den Kopf dabei.
    »An das, was ich gehört habe. Nicht, dass Ihr Männer verabscheut, sondern den Gestank ungewaschener Männer.«
    Sie betrachtete ihn weiter stirnrunzelnd und nickte schließlich.
    »Ihr habt Euch nicht verhört, Bruder. Nun geht mit Ishtar. Und Ishtar, bitte schicke Esther zu mir.« Sie richtete den Blick erneut auf St. Clair. »Ich werde hier sein, wenn Ihr fertig seid.«
    St. Clair folgte dem alten Eunuchen durch das Labyrinth der Korridore und Höfe im Inneren der Mauern, die einmal die große Al-Aksa-Moschee gebildet hatten. Dabei sah er sich nach etwas um, das er vielleicht wiedererkannte. Doch er entdeckte nichts, was ihm nur halbwegs vertraut erschienen wäre. Was ihn andererseits in seiner Annahme bestätigte, dass er kaum bei Bewusstsein gewesen war – oder zumindest seine Umgebung kaum wahrgenommen hatte –, als man ihn hier festhielt. Auch die Bäder waren ihm nicht vertraut, und das überraschte ihn. Denn am deutlichsten konnte er sich an die langen, angenehmen Stunden im warmen Luxus des Bades erinnern.
    »Ich kann mich nicht an diesen Raum erinnern.« Er sprach den Gedanken laut aus, allerdings nur, um seiner Verwirrung Ausdruck zu

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